04 - Mein ist die Rache
Raum mit durchhängender Decke und grauem abgetretenen Linoleum auf dem Boden. Sie drückte sie auf einen Stuhl an dem einfachen Fichtentisch. Dann kniete sie neben ihr nieder, blickte ihr forschend ins Gesicht, nahm ihren Arm und umfaßte das schmale Handgelenk mit ihren Fingern. Stirnrunzelnd legte sie Nancy die Hand auf die Wange.
»Tommy.« Helen war bewundernswert ruhig. »Ruf Dr. Trenarrow an. Ich glaube, sie steht unter Schock. Mit so was kann er doch umgehen, nicht wahr?« Sie löste das Kind aus Nancys Armen und reichte es Deborah. »Im Kühlschrank ist sicher Milch. Machst du etwas warm?«
Im anderen Zimmer telefonierte Lynley. Nachdem er aufgelegt hatte, machte er einen zweiten Anruf, kürzer noch als der erste, doch der veränderte, förmliche Ton seiner Stimme verriet den anderen, daß er mit der Polizei in Penzance sprach. Einige Minuten später kam er mit einer Decke in die Küche, die er Nancy trotz der Hitze umlegte.
»Können Sie mich hören?« fragte er.
Nancys Lider flatterten, zeigten nichts als Weiß. »Molly ... füttern.«
»Ich hab' sie hier bei mir«, sagte Deborah. Sie sprach leise und beruhigend auf das Kind ein. »Die Milch steht schon auf dem Herd. Sie mag sie doch sicher warm, nicht? Sie ist ein süßes kleines Mädchen, Nancy. So hübsch.«
Das waren die richtigen Worte. Nancy entspannte sich sichtlich. St. James nickte Deborah dankbar zu und trat wieder zur Wohnzimmertür. Er stieß sie auf und blieb auf der Schwelle stehen. Mehrere Minuten lang stand er dort, überlegte und machte sich ein Bild von dem, was er sah. Helen ging schließlich zu ihm. Selbst von der Tür aus konnte sie erkennen, was das für Papiere waren, die durcheinandergeworfen auf dem Boden, dem Schreibtisch, unter Sesseln und Sofa lagen. Notizbücher, Dokumente, Manuskriptseiten, Fotografien. St. James hörte wieder Daze Ashertons Worte über Mick Cambrey. Doch die Art des Verbrechens war mit der Schlußfolgerung, die er sonst ganz selbstverständlich aus ihren Worten gezogen hätte, nicht vereinbar.
»Was meinst du?« fragte Helen ihn.
»Er war Journalist. Er ist tot. Eigentlich müßten diese beiden Tatsachen irgendwie zusammenhängen. Aber die Methode spricht dagegen.« »Wieso?«
»Er wurde kastriert, Helen.«
»O Gott! Und daran ist er gestorben?«
»Nein.«
»Wie dann?«
Ein Klopfen an der Haustür kam seiner Antwort zuvor. Lynley eilte aus der Küche, um Roderick Trenarrow einzulassen. Wortlos trat der Arzt ein. Sein Blick flog von Lynley zu St. James und Helen, dann an ihnen vorbei ins Wohnzimmer. Mick Cambrey konnte er von seinem Standort aus nur teilweise sehen. Einen Moment lang schien es, als wolle er ins Zimmer stürzen, um zu versuchen, einen Menschen zu retten, für den es keine Rettung mehr gab.
»Sind Sie sicher?« sagte er zu den anderen.
»O ja«, antwortete St. James.
»Wo ist Nancy?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Trenarrow zur Küche, wo die Lichter hell waren und Deborah von kleinen Kindern erzählte, als hoffe sie, damit Nancy im Hier und Jetzt festhalten zu können. Trenarrow neigte Nancys Kopf nach rückwärts und sah ihr in die Augen.
»Helfen Sie mir, sie hinaufzubringen«, sagte er. »Rasch. Hat jemand ihren Vater angerufen?«
Lynley ging sofort zum Telefon. Helen half Nancy auf die Beine und bugsierte sie mit viel gutem Zureden aus der Küche hinaus. Trenarrow ging voraus. Deborah folgte mit dem Kind auf dem Arm. Gleich darauf war aus dem oberen Schlafzimmer Trenarrows Stimme zu hören. Er stellte behutsame Fragen, auf die Nancys lallende Antworten folgten. Bettfedern quietschten. Ein Fenster wurde geöffnet. Das trockene Holz des Rahmens knarrte.
»Im Verwalterhaus meldet sich niemand«, sagte Lynley, der noch beim Telefon stand. »Ich rufe in Howenstow an. Vielleicht ist John dort.« Aber ein kurzes Gespräch mit seiner Mutter ergab, daß man dort nichts von ihm wußte. Lynley sah stirnrunzelnd auf seine Uhr. »Es ist halb eins. Wo kann er um diese Zeit noch sein?«
»Er war nicht bei der Vorstellung, nicht wahr?«
»John? Nein. Ich kann mir nicht denken, daß ihn so etwas lockt.«
Es klopfte wieder an der Haustür. Als Lynley öffnete, sah er sich der örtlichen Polizei gegenüber, vertreten durch einen dicken, kraushaarigen Constable in einer Uniform, die sich durch zwei Halbmonde von Schweiß unter den Armen und einem Kaffeefleck auf der Hose auszeichnete. Er war vielleicht dreiundzwanzig Jahre alt und hielt es weder für nötig, sich auszuweisen, noch
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