04 - Mein ist die Rache
sind bestimmt beide oben und schlafen. Ganz sicher.« Sie rutschte auf dem Sitz nach vorn, um auszusteigen. St. James öffnete die Tür.
»Ich geh' jetzt rein. Ich danke Ihnen vielmals. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich Sie nicht in der Paul Lane getroffen hätte.«
Ihre Stimme wurde immer schläfriger. Lynley stieg aus und half ihr gemeinsam mit St. James aus dem Wagen. Trotz Nancys Versicherungen, ihr Vater und ihr Bruder lägen gewiß tief schlafend in ihren Betten, hatte Lynley nicht die Absicht, sie gehen zu lassen, ohne sich zu vergewissern, daß ihre Vermutung zutraf.
In ihren Worten hörte er den unverkennbaren Unterton, der im allgemeinen eine Lüge begleitet. Es war denkbar, daß sie im Lauf des Abends mit ihrem Vater telefoniert hatte. Aber als Lynley vor anderthalb Stunden versucht hatte, ihn zu erreichen, hatte er sich nicht gemeldet, und Nancys Beteuerungen, daß er - und auch ihr Bruder - das Telefon im Schlaf nicht gehört hätten, waren nicht nur unwahrscheinlich, sondern sprachen auch von dem Bestreben, etwas zu verbergen. Er nahm Nancy beim Arm und führte sie den unebenen Gartenweg zur Veranda hinauf, wo der süße Duft der Kletterrosen sich in die warme Nachtluft mischte. Bei einem raschen Gang durch die Räume des Hauses fand er seinen Verdacht bestätigt. Das Verwalterhaus war leer. Während Nancy sich im Wohnzimmer in einen Schaukelstuhl setzte und ihrer kleinen Tochter ein Lied vorsummte, ging er zur Haustür zurück.
»Es ist niemand da«, sagte er. »Aber ich glaube, ich warte lieber hier auf John, als daß ich Nancy mit zu uns nehme. Wollt ihr allein weiterfahren?«
St. James entschied für alle. »Wir kommen mit hinein.«
Sie setzten sich zu Nancy ins Wohnzimmer. Keiner sprach. Statt dessen gaben sie sich der Betrachtung der unzähligen persönlichen Kleinigkeiten hin, die sich im Lauf von fünfundzwanzig Jahren hier angesammelt hatten. Spanische Porzellanfiguren - eine Leidenschaft von Nancys Mutter - fingen Staub auf einem Spinett. Aufgespießte Schmetterlinge in einem Dutzend Rahmen hingen an einer Wand und zeugten neben einer Kollektion an Tennistrophäen von Mark Penellins vielfältigen Interessen. Vor einem breiten Erkerfenster lagen von Nancy sichtlich unter Mühen gestickte Kissen, ausgeblichen von der Sonne. Auf dem Fernsehapparat in der Ecke stand ein Bild von Nancy und Mark mit ihrer Mutter, zu Weihnachten aufgenommen, kurz bevor Mrs. Penellin bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen war.
Nachdem sie einige Minuten dem Ticken der Wanduhr gelauscht hauen, stand Nancy Cambrey plötzlich auf.
»Molly ist eingeschlafen«, sagte sie. »Ich bring sie nur schnell nach oben.«
Als sie sie die Treppe hinaufgehen hörten, faßte Helen in Worte, was Lynley schon die ganze Zeit durch den Kopf g in g.
»Tommy, was glaubst du, wo John Penellin ist? Meinst du, Nancy hat während der Theateraufführung wirklich mit ihm telefoniert! Ich fand die Art und Weise, wie sie immer wieder betonte, daß sie mit ihm gesprochen hat, sehr seltsam.«
Lynley saß auf dem Hocker vor dem Klavier und schlug behutsam eine Taste an. »Ich weiß es nicht«, antwortete er.
Doch selbst wenn er Helens intuitive Bemerkung hätte ignorieren wollen, hätte er doch sein Gespräch mit Nancy an diesem Nachmittag nicht vergessen können und ebensowenig die starke Abneigung, mit der ihr Vater sich über ihren Mann geäußert hatte. John Penellin hatte für Mick Cambrey nichts übrig gehabt.
»Ich verstehe gar nicht, wo Dad sein kann«, sagte Nancy, als sie wieder ins Zimmer kam. »Sie brauchen nicht zu bleiben. Wirklich nicht. Ich komme schon zurecht jetzt.«
»Wir bleiben«, sagte Lynley.
Sie schob sich das Haar hinter die Ohren und wischte sich mit beiden Händen über ihr Kleid. »Er ist bestimmt erst vor kurzem weggegangen. Das tut er manchmal, wenn er nicht schlafen kann. Dann geht er spazieren. Im Park. Das tut er oft, ehe er abends zu Bett geht. Bestimmt ist er im Park und geht spazieren.«
Keiner wies darauf hin, wie unwahrscheinlich es war, daß John Penellin nachts um halb drei einen Spaziergang im Park machte. Das war auch gar nicht nötig, denn die Ereignisse zeigten, daß Nancy unrecht hatte. Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, als die Scheinwerfer eines Autos über die Wohnzimmerfeilster strichen. Ein Motor tuckerte kurz und erstarb dann. Eine Tür wurde geöffnet und zugeschlagen. Schritte kamen durch den Vorgarten und dann auf die Veranda. Nancy eilte zur
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