04 The Vampire Diaries - Stefan's Diaries - Nebel der Vergangenheit
Blut sickerte ihr aus dem Hals und ihre Augen waren halb geöffnet. Obwohl es nur eine Zeichnung war, war es einfach schauerlich. Wie unter Zwang beugte ich mich vor, um sie genauer zu betrachten.
»I st das nicht schrecklich?«, fragte George, dessen Blick auf die Zeitung fiel. »D a bin ich doch froh, weit weg von London zu leben.«
Ich nickte geistesabwesend. Die schmutzige Druckerfarbe verschmierte mir die Hände, während ich hastig den Artikel überflog.
Frau der Nacht trifft Kreatur der Dunkelheit. Der Leichnam von Mary Ann Nichols wurde auf einer Straße des Londoner Stadtteils Whitechapel gefunden. Ihr war nicht nur die Kehle aufgerissen, es waren ihr auch die Eingeweide herausgezogen worden. Dieser Mord könnte in Zusammenhang mit den anderen Todesfällen in der Umgebung stehen. Weitere Einzelheiten – von Bekannten des Opfers – auf Seite 23.
Ohne mich darum zu scheren, dass George mich neugierig musterte, blätterte ich zu der angegebenen Seite weiter, und die Zeitung zitterte in meinen Händen. Ja, der Mord war schrecklich und zugleich schrecklich vertraut. Ich starrte noch einmal die Strichzeichnung auf der Vorderseite an. Mary Anns leeres Gesicht war dem Himmel zugewandt, ein unvorstellbares Grauen lag in ihren reglosen Augen. Dies war nicht das Werk eines verschmähten Liebhabers oder eines verzweifelten Diebes.
Es war das Werk eines Vampirs.
Und nicht nur das, es war das Werk eines brutalen, blutdürstigen Vampirs. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keinen so schauerlichen Mord gesehen oder davon gehört– bis auf jenen Tag vor zwanzig Jahren, als Lucius die Familie Sutherland massakriert hatte. Damon war ebenfalls dort gewesen.
Ein Schauder der Furcht lief mir über den Rücken. Vampire. Die meisten blieben für sich und tranken menschliches Blut so unauffällig wie möglich: in Barackenstädten, von Betrunkenen auf der Straße oder einfach, indem sie ihre Freunde und Nachbarn mit einem Bann belegten, sodass sie sich regelmäßig nähren konnten, ohne dass irgendjemand etwas bemerkte. Aber da gab es noch die ersten, ursprünglichen Vampire, die Alten. Diejenigen, die kein anderer Vampir zu seinesgleichen gemacht hatte, sondern die– wie Lexi mir erzählt hatte– direkt der Hölle entstammten. Sie hatten niemals eine Seele gehabt und daher auch keine Erinnerungen daran, wie es war zu leben, zu hoffen, zu weinen, ein Mensch zu sein. Was sie hatten, war der unstillbare Durst nach Blut und das Verlangen nach Zerstörung.
Und wenn Klaus jetzt hier war… ich schauderte bei dem Gedanken daran, verwarf die Idee aber schnell wieder. Ich hatte eine blühende Fantasie. Stets nahm ich das Schlimmste an und rechnete damit, dass mein Geheimnis in der nächsten Sekunde offengelegt würde. Immer vermutete ich, dass ich dem Untergang geweiht war. Nein. Das hier war höchstwahrscheinlich das Werk eines blutdürstigen Damon gewesen, dem eine Lektion erteilt werden musste, die er schon vor langer Zeit hätte lernen sollen.
Schließlich war Damon nicht nur blutdürstig; er hungerte nach Ruhm. Er liebte die gesellschaftlichen Klatschseiten in der Zeitung. Da war der Sprung auf die Verbrechensseiten nicht weit, oder?
»L assen Sie sich durch diese Geschichte nicht einschüchtern«, sagte George und lachte dabei ein wenig zu laut. »D as ist alles in den Elendsvierteln passiert. Wir werden nicht einmal in die Nähe dieser Viertel kommen.«
»N ein«, erwiderte ich entschieden und mit zusammengebissenen Zähnen. Ich legte die Zeitung neben mich. »I ch würde tatsächlich gern von Ihrem Angebot Gebrauch machen und die ganze Woche freinehmen.«
»W ie Sie wünschen«, sagte George, lehnte sich in seinem Sitz zurück und hatte die Mordgeschichte anscheinend bereits vergessen. Ich betrachtete erneut die Zeichnung. Die Darstellung war blutig und gruselig, der Zeichner hatte sich viel Mühe gegeben, möglichst realistisch zu zeigen, wie die Innereien aus dem Leichnam des Mädchens quollen. Ihr Gesicht war ebenfalls zerschnitten, aber ich schaute immer wieder zu ihrem Hals– auf der Suche nach zwei nadelgroßen Löchern, die unter dem Blut verborgen ins Fleisch gebohrt waren.
Die Lokomotive pfiff und ich konnte aus dem Fenster bereits die beeindruckende Stadt sehen. Wir fuhren nach London ein. Ich wollte, dass der Zug umdrehte und mich nach Abbott Manor zurückbrachte. Ich wollte weglaufen, zurück nach San Francisco oder nach Australien oder irgendwohin, wo es keine Dämonen gab, die unschuldigen Menschen
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