04 Verhaengnisvolles Schweigen
er nicht angewachsen wäre.«
Sie ging weiter zum Metzger, kaufte die besten Schweinekoteletts, die er noch hatte, und machte sich dann auf den Heimweg. Stephen hatte wirklich so geklungen, als bräuchte er einen Freund. Er war müde gewesen, bedrückt. Katie bedauerte es, dass sie ihn enttäuscht hatte, aber was hätte sie sonst tun sollen? Sie konnte nicht seine Freundin sein, sie wusste gar nicht, wie das ging. Außerdem gehörte es sich nicht.
Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie einen heranjagenden Mini, wich ihm aus und ging wieder über die Wiese. Ein paar Leute, hauptsächlich alte Frauen, saßen schwatzend auf den Bänken. Die jungen, blassgrünen Blätter der Bäume raschelten in einer leichten Brise. Stephen hatte recht damit, dass sie unglücklich war. Sah man ihr das so deutlich an, oder fühlte er sich ihr wirklich verbunden? Aber wie sollte auch er unglücklich sein, so erfolgreich, wie er war, und mit all seinem Geld.
Katie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal glücklich gewesen war, und dachte an die ersten Wochen in Swainshead. Das Haus instand zu setzen, war harte Arbeit gewesen, aber sie hatten es geschafft. Und was viel wichtiger war, sie hatten es gemeinsam geschafft. Doch nachdem alles fertig gewesen war, hatte Sam die ganze Arbeit ihr überlassen. Als wäre sein Lebenswerk nun vollbracht und es daher sein gutes Recht, sich in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen.
»Seine Ideen sind eine Nummer zu groß für ihn«, hatte ihre Großmutter immer über Sam gesagt. Und so war es auch, kaum war das Gasthaus eröffnet, hatte er sich ins White Rose abgesetzt und schmeichelte sich bei den Einheimischen ein. Sobald er herausgefunden hatte, dass die Colliers, denen das große Haus am Ende der Straße gehörte, die wohlhabendste und mächtigste Familie im ganzen Tal waren, hatte man ihn nicht mehr halten können. Aber eines muss man ihm lassen, dachte Katie, er hat nie gekatzbuckelt oder sich erniedrigt. Er hat sich einfach nur so verhalten, als hätte er letztlich seinen natürlichen Platz in der Rangfolge gefunden. Warum sie ihn als einen der ihren sahen, wenn sie es denn wirklich taten, konnte sie sich nicht vorstellen.
Wenn sie nicht mit der Leitung des Gasthauses beschäftigt war, wurde Katie zum Anhängsel, mit dem sich Sam auf den Gartenpartys im Sommer schmückte. Sie war eine Art Aschenputtel, für die das Vergnügen immer nur von kurzer Dauer war. Aber anders als die Figur im Märchen hasste Katie ihre beiden Rollen. Sie machte sich nichts aus Abendkleidern und Glaspantoffeln. Kleider konnten noch so elegant und teuer sein, sie fühlte sich immer billig und sündhaft darin. Einmal hatte ihr eine Arbeitskollegin, die das Glück hatte, Urlaub in Paris machen zu können, einen schönen grünen Seidenschal mitgebracht. Ihre Großmutter hatte ihn in Stücke geschnitten und sie wie verwelkte Blätter ins Feuer geworfen.
Obwohl Katie es ungerne zugab, war sie vielleicht zum letzten Mal wirklich glücklich gewesen, als ihre Großmutter starb. Nachdem sie und Sam bei seinen Eltern in Armley eingezogen waren, hatten sie die alte Frau nicht mehr häufig gesehen. Manchmal besuchten sie sie im Krankenhaus, wo sie langsam an Darmkrebs starb und den ganzen Schmerz und die Demütigung mit der gleichen sturen Tapferkeit ertrug, wie sie das Leben erlitten hatte. Sie lag mit ihrem silbrigen Haar auf dem weißen Kissen und nahm gegen das, was »Gottes Wille« ihr angetragen hatte, keinerlei Annehmlichkeiten in Anspruch. Man konnte fast meinen, dachte Katie, sie hätte in diesem letzten Aufbegehren des Fleisches und jeder einzelnen Zelle wahrhaftige Freude gefunden, weil ihr das Sterben einen Beweis dafür lieferte, dass das Leben auf Erden tatsächlich nichts anderes war als ein Tal der Tränen. Doch das konnte nicht sein, wurde Katie klar. Ihre Großmutter hatte niemals an irgendetwas Freude empfunden.
Bei der Beerdigung fiel Katie in Ohnmacht, und nach dem Brandy, den ihr der Pastor gab, damit sie die Feierlichkeiten durchhielt, musste sie sich erbrechen. Ein schweres Holzkreuz über dem Kaminsims im Wohnzimmer war nun alles, was ihr von der Großmutter noch geblieben war. Das blanke, dunkle Kreuz ohne eine Darstellung des gekreuzigten Jesus (denn solcherlei Dinge waren nur was fürs gemeine, nicht wirklich gläubige Volk) symbolisierte auf vollkommene Weise das harte, strenge Leben, das die alte Frau für sich selbst und ihre Enkelin auserwählt hatte.
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