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sich und sagte etwas in sehr schnellem Französisch (glaube ich zumindest).
Sinclair schenkte ihr ein Lächeln, das zu fünfundachtzig Prozent echt aussah.
„Guten Abend, Marjorie."
„Eure Majestäten."
„Schön, dich wiederzusehen."
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Sir."
Sinclair beugte sich vor und küsste ihre Hand, wie es die Europäer machen, aber bevor irgendjemand auf die Idee kommen konnte, meine zu küssen, streckte ich sie mit einer Geste aus, die eindeutig zum Schütteln aufforderte.
Lächelnd kam sie der Aufforderung nach und fast hätte ich ihre Hand fallen gelassen. Nicht weil sie kalt war, denn das hatte ich erwartet, sondern weil ich mich in ihren Augen spiegelte. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen.
Ein alter Vampir, entschied ich. Einer, der alles gesehen 46
hatte, absolut alles. Und dem alles am Arsch vorbeiging. Aber auch wirklich alles. Vor diesen Vampiren hatte ich zwar Angst, empfand aber auch gleichzeitig Mitleid mit ihnen.
„Schön, dich kennenzulernen", log ich.
Sie neigte den Kopf. „Majestät. Wir begegnen uns nicht zum ersten Mal."
„Nein, das stimmt nicht." Diese Augen hätte ich niemals vergessen. Nicht einmal Nostro hatte solche Augen gehabt. Nein, wir hatten uns noch nicht getroffen. Und ich hoffte, dass wir das nach dem heutigen Tag auch kein zweites Mal tun würden.
„Ich war Teil der Gruppe, die Euch Tribut gezollt hat, nachdem Nostro ... äh ...
seinen Unfall hatte. Möglich, dass Ihr mich nicht bemerkt habt."
„Nein, ganz bestimmt nicht." Dann, weil sie vielleicht enttäuscht sein könnte (aber wer konnte das schon wissen? Sie war ein verdammter Roboter), fügte ich hinzu: „Pardon, wenn ich dich übersehen haben sol te."
„Nicht schlimm, meine Königin. Schließlich hattet Ihr .. viel zu tun."
Ich lachte widerwillig. Der Roboter war doch tatsächlich programmiert worden, witzige Bemerkungen zu machen! „So kann man es auch ausdrücken."
„Darf ich dir einen Drink anbieten? Wir haben einen Chäteau Leoville-Poyferre, der dir gefallen könnte."
Hatten wir?
„Mein König, das ist das verlockendste Angebot, das ich in diesem Jahr erhalten habe, aber leider ruft die Pflicht. Ich kam nur vorbei, um die Königin um einen Gefallen zu bitten."
Ach ja? Wenigstens sprach sie Englisch.
„Nun", sagte ich, „dann komm doch rein."
„Ich danke Euch, meine Königin."
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Um Zeit zu sparen, entschieden wir uns für den Salon nahe der Eingangshalle, und die alte Marjie kam auch gleich zur Sache.
„Wie Ihr wisst, leite ich die Bibliothek in der Innenstadt."
Also war sie wirklich Bibliothekarin! Ich tat, als wäre das nichts Neues für mich, und nickte.
„Ich werde einen Newsletter für die Gemeinde der Vampire herausgeben."
„Tatsächlich?"
„Es war Eure Idee, meine Königin. Verdammt noch mal, warum schaf t ihr Typen euch keinen Newsletter oder so an, Mann!"
Sinclair grinste. „Das klingt ganz nach ihr." „Wann soll ich das gesagt haben?"
„Anlässlich unseres ersten Treffens, an das Ihr Euch nicht mehr erinnert."
„Entschuldigung, aber an dem Tag hatte ich nun wirklich andere Sorgen. Wenn du es nicht einmal schaffst, dich vorzustellen, dann beschwer dich nicht hinterher, dass ich mich nicht an dich erinnere!"
„Ich bitte trotzdem um Verzeihung", sagte Marjorie tonlos, „für meine Fehler."
„Und du klaust auch noch Zeilen aus Vom Winde verweht"
Endlich wurde der Roboter ein bisschen lockerer. Sie lächelte sogar. „Ihr habt den Film gesehen?"
„Nur ungefähr achttausend Mal. Die Szene steht nicht im Buch, aber sie ist toll. Rhett wird herausgefordert, aber er weigert sich zu kämpfen, weil er weiß, dass er allen anderen überlegen ist und es außerdem lästig und überflüssig wäre, Charles Hamilton zu töten. Also verbeugt er sich nur und geht."
„Meiner Meinung nach reißt das ein Thema an, das sowohl im Buch als auch im Film behandelt wird", sagte Marjorie
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nachdenklich und kreuzte die Beine wie eine Dame, „weil wir Rhetts schlechte Eigenschaften sehr oft zu sehen bekommen, seine guten aber nur in Verbindung mit Scarlett."
„Genau. Zum Beispiel schenkt er ihr einen Hut, als die Blockaden strenger werden, und stiehlt ein Pferd für sie, damit sie die Stadt verlassen und ihre Mutter besuchen kann. Die gestorben ist. Aber Scarlett weiß davon noch nichts."
Geduldig lächelnd wartete Marjorie meinen aufgeregten Einwurf ab. „Und nun hat er die Gelegenheit, einen der ihm so verhassten Plantagenbesitzer zu
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