0405 - Mit Blut geschrieben
lassen.
Gesang, Musik und Stimmenwirrwarr empfingen den Agenten.
Wenn jemand eine russische Seele zitierte, so konnte er sie in dieser Kellerkneipe erleben, wo die Gäste an einfachen Tischen saßen oder auf Holzbänken an der Wand. Eine vorsintflutliche Musikbox spielte, und viele Gäste sangen mit.
Wladimir wurde als Stammgast begrüßt. Durch Schulterklopfen, Händeschütteln oder Winken. Bis zum Schanktisch kämpfte er sich durch, sah den schnauzbärtigen Wirt, dessen Wiege irgendwo am Schwarzen Meer gestanden hatte, und bekam sofort ein Glas mit Wodka zugeschoben.
Es war zwar offiziell nicht erlaubt, aber wer hier regelmäßig verkehrte, der erhielt, was er wollte.
»Lange nicht gesehen, Gospodin«, sagte der Wirt. »Du warst bestimmt zwei Wochen weg.«
»Ja.«
»Und wo hat dich Brüderchen Wind hingetrieben?«
Wladimir nahm einen Schluck Wodka aus dem Wasserglas. Dabei ließ er sich eine Ausrede einfallen. »In den Westen!«
»Was?«, schrie der Wirt und bekam glänzende Augen.
»Nicht so, wie du denkst. Polen.«
Der Schnauzbart winkte ab. »Dort ist es ja noch schlimmer als in Sibirien. Nein, nach Polen will ich nicht.«
Andere Gäste hatten ebenfalls von dem Dialog einiges mitbekommen. Sie begannen, über Polen zu erzählen und darüber zu kritisieren. Wladimir hörte zwar zu, er schaltete jedoch auf Durchzug und starrte in den halbblinden Spiegel, wo er einen knochig wirkenden, hochgewachsenen Mann mit blonden, gescheitelten Haaren sah. Er hatte die blauen Augen der Nordländer. Seine schmale Nase hatte einen leichten Höcker und war ein wenig gekrümmt.
Erst als er die Mädchenstimme hörte, drehte er sich nach rechts.
Eine neue Kellnerin wirbelte heran. Sie war ziemlich klein, aber proper. Dazu schwarzhaarig und mit der tiefen Bräune des Südens versehen. So sahen auch die Mädchen aus dem Orient aus. Sie sprach Russisch wie eine Fremdsprache.
»Neu hier?«, fragte Wladimir.
»Seit einer Woche.«
»Willkommen. Wie heißt du?«
»Saskia.«
»Ich bin Wladimir. Trinkst du ein Glas mit mir?«
»Nein, keinen Schnaps. Ich kann ihn nicht vertragen. Aber ich habe Wein mitgebracht. Er ist vorzüglich. Willst du ein Glas probieren?«
»Sicher. Wir nehmen eine Flasche.« Wladimir leerte sein Glas und fluchte innerlich.
Er befand sich in einer Leck-mich-Stimmung. Am liebsten hätte er alles hingeworfen. Er kam sich vor wie jemand mit dem Kainsmal des Verräters auf der Stirn. Auch diesen Leuten hier musste er etwas vorspielen. Hätten die seinen wahren Job gekannt, er hätte sich nicht mehr blicken lassen dürfen. Wenn Menschen andere Menschen mit Verachtung strafen, tut das sehr weh.
So aber hatte der Wirt den Wein geholt, und Wladimir trank das erste Glas des herben Roten.
Saskia hielt mit. Sie teilten sich die Flasche, tranken Brüderschaft, und Wladimir hatte glänzende Augen, als er das Lokal verließ und in die Kälte des späten Abends hinaustrat.
In der Kälte überkam ihn wieder das heulende Elend. Am liebsten wäre er mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt, so sauer war er. Er, Wladimir Golenkow, hatte einen Freund verraten.
Der Russe hätte schreien können. Er stand auf dem Gehsteig, hatte die Hände geballt, seine Augen glänzten, dann sank sein Kopf nach vorn. Fahrig strich er über die Stirn.
Ein anderer hätte es sicherlich nicht als Verrat angesehen. Aber das Kloster, um das es John Sinclair ging, stand zwar noch, war aber im Laufe der Jahre umfunktioniert worden.
Jetzt befand sich darin eine Schule.
Allerdings eine besondere. Dort wurde der Agentennachwuchs des KGB ausgebildet.
***
Den Wald hatte man abgeholzt, weil die Planer es vorgezogen hatten, das Kloster in ein deckungsfreies Gelände zu stellen, um mögliche Saboteure sofort erkennen zu können. Wo früher die Mönche in den Zellen gebetet hatten, befanden sich heute die Räume der auszubildenden Agenten. Bei den Mönchen war das Leben wenigstens nach außen hin spartanisch gewesen. Davon hatte der KGB viel übernommen.
Auch die jungen Männer, die das Handwerk eines Agenten erlernten, hatten es nicht leicht. Zwar war die Technik die modernste, die die UdSSR zu bieten hatte, das musste von der Ausbildung her einfach sein, aber Zucht und Ordnung in dem »Kloster« bestanden aus hartem Drill.
Das hieß: Wecken in aller Früh, danach Sport, anschließend das erste Essen. Der Unterricht, der sich bis zum Mittag hinzog, folgte.
Am Nachmittag kamen die Knochenbrecher an die Reihe. Das waren die Ausbilder, die den
Weitere Kostenlose Bücher