0417 - Die Straße der Gräber
hatten sie den Ort verlassen, vielleicht nicht.
Möglicherweise lauerten sie irgendwo in den kleinen Gassen oder waren in ein Haus gegangen, um durch die Fenster zu schauen.
Die Katze miaute.
»Ja, ja«, sprach ich sie an. »Du hast es gut. Dir tut niemand etwas, dich hat auch keiner gefesselt…«
Trotzdem jaulte sie weiter, und sie entfernte sich von mir.
Das Tier hatte etwas gespürt.
Was es genau war, wußte ich nicht. Wenn eine Katze so reagierte wie diese hier, dann hatte sie etwas aufgenommen, und zwar einiges, das ihr nicht gefiel und sie vorsichtig werden ließ.
Tiere besitzen einen wesentlich besser ausgebildeten Instinkt als wir Menschen. Sie waren viel stärker mit der Natur verbunden.
Deshalb achteten sie auch auf Signale, die wir nicht empfangen konnten.
Hatte die Katze tatsächlich bemerkt, daß irgendwo etwas lauerte?
Sie gab sich auch weiterhin sehr gespannt. Das Fell sträubte sich, sie öffnete das Maul, jedoch nicht, um zu schnurren oder zu miauen, sondern um warnend zu fauchen.
Warnend wovor?
Ich konnte meinen Kopf bewegen und blickte mich um. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Keine Gestalt näherte sich mir. Es mußte also an der Laterne etwas anders sein, das die Katze so gestört hatte.
Noch sah ich nichts.
Es war nur der Wind, der mir entgegenfuhr, in die Gassen drang, über die Häuser strich und die Nässe des Pflasters allmählich trocknete.
Die Katze stand still.
Bis zu dem Augenblick, als sie einen klagenden Ruf ausstieß, vorsprang, wieder stehenblieb und fauchte.
Etwas war geschehen.
Es war unwahrscheinlich.
Mark Tremper hatte von einem Zeitenwechsel gesprochen, wo sich die Vergangenheit in die Gegenwart hineinschob.
Und genau dies erlebte ich in den nächsten Minuten…
***
Von Minuten zu sprechen war nicht legitim, denn die normale Zeitmessung wurde in diesem Fall aufgehoben. Ich erlebte dafür einen unheimlichen Vorgang, den ich einfach hinnehmen mußte, ohne ihn erklären zu können. Um mich herum entstand ein anderes Dorf.
Es erschien aus dem Nichts, als hätte jemand mit Häusern bemalte Glasplatten in das normale Dorf hineingeschoben und diese Platten vor die modernen Häuser gedrückt. So entstand also ein völlig neues Ortsbild.
Ein altes Dorf – mittelalterlich…
Häuser, die geduckt am Rand einer schlammigen, pflasterlosen Straße standen. Düstere Fassaden ohne Licht, eine gewisse Unheimlichkeit ausströmend. Eine alte Kirche mit dem schiefen Turm, bei dem ein Teil des Dachstuhls fehlte.
Ställe, gefüllt mit Vieh, Menschen, die wie Geister wirkten und sich zeitlupenhaft bewegten.
Soldaten dazwischen, Pferde, die schwarze Baumstämme hinter sich herzogen, all das sah ich, auch die Frauen, die in alte, lumpenartige Gewänder gekleidet, zu einem Brunnen gingen, Wasser holten und die Tröge und Krüge in die Häuser schleppten.
Manche Dächer waren mit dichtem Gras und Moos abgedeckt.
Nicht eine Laterne warf ihren Schein in die Dunkelheit, und ich stand noch immer gefesselt da und schaute zu.
Die Katze sah ich nicht mehr. Sie war verschwunden, zurückgekehrt in die Zukunft, aber ich blieb in der Vergangenheit, und das mußte seinen Grund haben.
Mein Kreuz trug daran die Schuld.
Sehr deutlich merkte ich, daß es sich auf meiner Brust erwärmt hatte und diese Wärme sogar bis in die Gegend meiner Achselhöhlen zog. Wo ich stand, sah ich kaum Häuser, dafür einen kleinen Acker, der plötzlich in Bewegung geriet und an sieben verschiedenen Stellen aufgeworfen wurde.
Etwas schob sich aus dem Boden.
Zuerst wurden meine Augen starr, ich wollte es kaum glauben, was sich da tat, denn die aus der Erde dringenden Gegenstände waren umweht von einem hellgrauen Rauch, der mir noch einen großen Teil der Sicht nahm, aber ich hatte bereits erkennen können, was da so schaurig-schön hervorkroch.
Es waren sieben fahlweiße Kreuze!
***
Bisher hatte ich den Angaben des Mark Tremper nicht so recht trauen wollen, nun sah alles anders aus. Er hatte recht mit seiner Behauptung gehabt, er und die sechs anderen Menschen hatten in ihren Tagträumen tatsächlich diese Gegend gesehen, und sie mußten demnach auch in diesem Ort gelebt haben.
Sieben Kreuze!
Ich stand als Gefesselter davor. Auf meinem Rücken spürte ich den Schauder. Immer wieder erlebte ich neue Dinge, immer wieder wurde ich überrascht, wie auch hier, und ich fragte mich schon, was die Kreuze zu bedeuten hatten.
Lagen bereits die sieben in ihren Gräbern, so daß ich sie als Lebende nicht
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