0424 - Das lebende Bild
schon? Seine Gruppe ist klein, wir sind stärker. Ihm wird es nicht gelingen, das Geheimnis des Dunklen Grals zu lüften, und auch du, Sinclair, wirst dir daran die Zähne ausbeißen. Wir aber haben unsere Vorbereitungen bald abgeschlossen. Das Netz ist gespannt, und wir können darangehen, uns mit dieser Magie zu beschäftigen.«
»Wo steht das Bild?« fragte ich.
»Ich habe es herbringen lassen.«
»Kann ich es sehen?«
»Das liegt nicht an mir«, erwiderte er ausweichend.
»Weshalb wurde dieses Bild gemalt?« wollte ich wissen.
»Man wollte damals etwas ausprobieren. Man hat es zu Baphomets Ehren erschaffen. Er sollte durch dieses Bild ein Zeichen setzen, was er letztendlich auch geschafft hat.«
»Das heißt, die Monster kamen frei?«
»Ja, sie wurden mit Leben erfüllt. Auch der Käufer hat dies bemerkt. Für ihn war es zu spät.«
Jetzt wußte ich, wer den Oberkommissar umgebracht hatte, und spürte den heißen Zorn in mir hochsteigen.
»Und noch etwas möchte ich dir sagen, John Sinclair. Du hast vorhin den Namen Vincent van Akkeren erwähnt. Wir haben ihm bereits Bescheid gegeben, daß du in Nürnbergbist. Er wird kommen und sich in unserem Tempel deine Leiche anschauen.« Durch die Lautsprecher klang das Räuspern des Mannes wie ein Knattern. Er fügte noch einen letzten Satz hinzu. »Ich lasse dich jetzt allein, Sinclair. Viel Spaß bei der Bildersuche…«
Deutlich hatte ich den Zynismus aus seinen Worten herausgehört. Dieser Bilder-Franz war ein widerlicher Mensch, der voll unter dem Einfluß des Bösen stand.
Und er verließ sich auf van Akkeren, den Grusel-Star. Wenn diese Person ins Spiel kam, wurde es böse und gemein. Van Akkeren gehörte zu den Menschen, die schlimmer als der Teufel waren.
Was ich bisher von ihm erlebt hatte, war einfach furchtbar.
Zweimal hätte ich ihn fast gehabt, aber er war mir im letzten Augenblick immer wieder entwischt.
Nun sollte er auf dem Weg nach Nürnberg sein, um meine Leiche in einem Tempel zu besichtigen.
Vielleicht in einem Baphomet-Tempel?
Da stand mir ja noch einiges bevor.
Viel wohler hätte ich mich gefühlt, wenn Suko jetzt an meiner Seite gestanden hätte. Doch der saß in London und schaute wahrscheinlich der Wintersonne zu, die durch das Bürofenster schien.
Ich drehte mich noch einmal um und nahm die Tür in Augenschein. Sie bestand aus einem sehr dicken, schlagfesten Holz. Ohne Werkzeug war da nichts zu machen.
Sicherlich hatte der Besitzer das Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« vor die Ladentür gehängt. Mit Kunden war demnach nicht zu rechnen.
Es gab nur den Weg nach vorn.
Nicht ich übernahm die Initiative, es war der Mann, den ich nicht sehen konnte. Er hockte irgendwo und konnte die Umgebung steuern oder lenken, in der ich mich befand.
Das Licht der Laternen wurde schwächer und blasser. Er löschte es nicht völlig, aber die Leuchtkraft der imitierten Kerzen fiel weit zurück.
Es gab mehr Schatten als Helligkeit, und in meinerunmittelbaren Umgebung herrschte die Düsternis vor. Wie lange Tücher lagen die düsteren Schatten auf dem Boden. Die Staffeleien zeichneten sich dort ebenfalls ab, nur verschwommen und perspektivisch verzerrt.
Ich hob den Arm, stieß gegen eine Lampe, die anfing zu schwanken, so daß der von ihr geworfene Schatten zuckend über den Boden huschte und meinen Weg so lange begleitete, bis ich in einem schmalen Gang zwischen zwei hohen Staffeleien stand.
Das rechte Bild zeigte eine düstere Flußlandschaft. Ein Boot mit eingezogenen Segeln lag am Ufer. Dunkle Wolken segelten über den Himmel, und ich hatte das Gefühl, diese Uferlandschaft nicht nur zu sehen, sondern auch riechen zu können.
Dann ging ich weiter. Jeder Schritt konnte mich dem Verderben näher bringen. Meine Silberkugel-Beretta steckte griffbereit in der Halfter. Ich war bereit, sie innerhalb einer Sekunde zu ziehen und sofort zu feuern. Der Boden bestand aus großen, quadratischen Steinplatten, die fast fugenlos aneinander lagen.
An der nächsten Staffelei mußte ich mich rechts vorbeidrücken und hatte dann eine relativ freie Sicht.
Da in der Nähe eine Lampe hing, schaute ich nach vorn in eine leere Ecke des Ladens.
Am Ende dieses Fleckens wuchs ein Schatten vom Boden her in die Höhe. Obwohl er die Decke nicht erreichte, war er doch ziemlich groß, größer jedenfalls als ich.
War es ein Bild?
Wenn ja, konnte es unter Umständen das Gemälde sein, aus dem die beiden Bestien gestiegen waren.
Das lebende Bild also!
Franz
Weitere Kostenlose Bücher