0424 - Das lebende Bild
Eisenschloß.
Georg von Spränge stand neben mir und sah zu, wie ich einen Schlüssel probierte.
Es war der falsche.
Erst der vierte von den fünf Schlüsseln paßte. Als ich ihn bewegte, gab das Schloß ratschende Laute von sich, und die Gittertür quietschte erbärmlich, nachdem sie angestoßen wurde und in den Gang hineinschwang.
Er war dunkel.
»Nehmt eine Fackel!« wies ich Georg an.
»Ihr nicht?« fragte er.
»Nein, eine wird uns reichen.«
Der Student zog sie aus der Halterung, hielt sie hoch und leuchtete uns.
Ich hatte die Schwelle bereits überschritten und wartete einige Meter entfernt auf den jungen Mann.
Der Flammenschein huschte über sein Gesicht und bemalte es mit dem Wechselspiel aus Licht und Schatten, aber es übertünchte nicht die Angst, die den jungen Mann quälte.
»Müssen wir denn den Weg gehen?«
»Wenn Ihr nicht wollt, Georg…«
»Doch, doch«, sagte er schnell. »Ich gehe mit Euch. Ich bleibe an Eurer Seite.«
»Dann kommt.«
Wir gingen nebeneinander her und hatten beide das Gefühl, in die Unheimlichkeit einer feuchten, unterirdischen Welt zu treten, die uns mit tausend Armen umfangen hielt.
Der Gang war eng. Die Mauern bestanden aus Steinen und festgebackenem Lehm. Wenn das Licht und die Schatten über sie hinwegtanzten, sahen sie aus, als würden sie sich bewegen und noch enger zusammenrücken.
Der Weg senkte sich ein wenig. Dabei führte er in einer sehr weit angesetzten Kurve nach rechts. Mein Nebenmann nahm es nicht zur Kenntnis, ich aber überlegte und stellte eine entsprechende Frage. »Könnten wir nicht bald unter dem Fluß sein, wenn wir weitergehen?«
»Ja, das ist möglich.«
»Ihr wart noch nie in den Verliesen?«
»Nein.«
Die nächsten Sekunden vergingen schweigend. Hinter uns war die Finsternis des Stollens wieder zusammengefallen. Ich empfand die Atmosphäre als bedrückend. Sie hatte überhaupt nichts Helles oder Positives an sich, sie war einfach deprimierend.
Dann sahen wir eine Treppe aus Lehmstufen. Sie waren ziemlich steil, und nach den fünf Stufen wurde der Gang noch enger. Aber es hatte sich etwas verändert.
Wir hörten Stimmen!
Ohne uns abgesprochen zu haben, blieben wir stehen, lauschten, und Georg, der seinen Arm mit der Fackel seitwärts gestreckt hielt, bekam eine Gänsehaut. »Das müssen sie sein…«
»Und sie leben.«
»Dann könnt Ihr sie ja herausholen. Bestimmt werden die anderen Schlüssel zu den Türen der Zellen passen.«
»Das glaube ich auch.«
Ich ging wieder vor. Den Ring mit den Schlüsseln hielt ich in der linken Hand. Bei jedem Schritt klingelte das Metall.
Georg von Spränge leuchtete auch weiterhin. Die Flamme wirkte jetzt noch unruhiger. Wahrscheinlich übertrug sich das Zittern des jungen Studenten auf sie.
Wir erreichten das erste Verlies. Da wir die Stimmen vernommen hatten, war mir klar gewesen, Gittertüren vorzufinden. Die Stäbe waren sehr dick und auch verrottet, aber sie würden dem Ausbruchversuch eines Menschen immer standhalten.
»Leuchtet mal hinein!« wies ich Georg an.
Der brachte seine Hand mit der Fackel dicht an die Gitterstäbe heran, und wir konnten erkennen, wie klein und auch leer das Verlies war.
Ein unbeschreiblicher Geruch wehte uns entgegen. Menschen hatten hier ihre Notdurft verrichtet. Das Stroh in der Ecke faulte. Es bewegte sich plötzlich, als eine dicke Ratte darunter hervorsprang und in eine dunkle Ecke vor dem Fackellicht flüchtete.
»Das ist menschenunwürdig!« flüsterte ich und räusperte mich, weil meine Stimme versagte.
»Aber so sind die Menschen nun mal.«
»Leider.« Ich stieß meinen Begleiter an. Er verstand das Zeichen und ging weiter.
Auch die nächsten beiden Verliese waren leer.
Aber das letzte nicht.
Wir hatten die Gefangenen noch sprechen gehört, sie waren dann verstummt, wahrscheinlich hatten sie unsere Schritte vernommen und auch den Widerschein des Lichts gesehen.
»Gleich sehen wir sie.« Georgs Stimme zitterte. Er hatte sich kaum noch in der Gewalt.
Noch ein kleines Stück Mauer passierten wir, dann standen wir vor der letzten Tür.
Sie war doppelt so breit wie die anderen, und auch das Verlies hatte größere Ausmaße.
Hinter den Stäben lauerte die Dunkelheit, die erst wich, als Georg die Fackel näher an die Tür heranbrachte und der Schein seinen Weg durch die Räume zwischen den Stäben fand.
Er lief zuckend über den Boden, malte Muster und Schattenbilder – und erreichte auch die vier Gefangenen, die sich an die Rückwand der
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