0432 - Sein Todfeind war ein flottes Girl
Polizei.
***
Ich traf gegen neun Uhr morgens im Leichenschauhaus ein. Leutnant Harris vom 3. Morddezernat hatte mich davon verständigt, daß man Reading gefunden hatte. Ich war in groben Zügen vom bisherigen Stand der Ermittlungen informiert.
Zwei junge Leute hatten in der vergangenen Nacht gegen dreiundzwanzig Uhr zwanzig auf dem Grundstück Hollis Avenue 156 ein verlassenes Officegebäude betreten, das zu dem großen, inzwischen weiterverkauften Komplex einer stillgelegten Fabrik gehörte.
Die Aussagen der jungen Leute waren zu Protokoll genommen worden. Die wenigen, nüchternen Sätze, mit denen Ort und Ursache des grausigen Fundes skizziert wurden, verrieten nichts von der kleinen, menschlichen Tragödie, die sich für die beiden jungen Leute dahinter verbarg.
Der Fabrikkomplex sollte abgerissen werden, um modernen Wohnblocks Platz zu machen.
Der Polizeiarzt hatte inzwischen einwandfrei festgestellt, daß der Tod an jenem Morgen eingetreten war, als Mr. Reading zum letztenmal das Haus verlassen hatte.
.Zwischen sieben Uhr vierzig und acht Uhr dreißig', hieß es in dem Bericht.
Er war erstochen worden. Mit einem Messer.
Es stand fest, daß er erst später in die Fabrik gebracht worden war.
Die Mordwaffe war noch nicht gefunden worden.
Ein Mann mit harten, unbewegten Zügen zog vor mir einen der langen Stahlkästen aus der Wand. Er nahm das weiße Laken zurück. Ich musterte Reading nur kurz.
»Okay?« fragte der Mann. Er war wie ein Krankenpfleger gekleidet. Ich nickte, und er stieß den auf Rollen laufenden Kasten in die Wand zurück. Der Kasten war numeriert; er war nur einer von hundert anderen. Das Ganze ähnelte in Technik und Mechanik einer riesenhaften Kartei. Es war eine Kartei des Grauens, gefüllt mit Unfalltoten, die noch nicht identifiziert werden konnten, mit Opfern grauenvoller, schrecklicher Verbrechen.
»War Mrs. Reading schon hier?« fragte ich.
»Vor zehn Minuten«, sagte der Mann. Er schob die Hände in die Taschen des weißen Kittels und ging auf den Ausgang zu. Ich folgte ihm.
»Wie hat sie's aufgenommen?«
»Sehr ordentlich, sehr gefaßt. Sie hat nur genickt und kein Wort gesagt.«
»War Harris dabei?«
»Ja — er hatte sie abgeholt.«
Im Office trug ich mich in ein Buch ein, dann verließ ich das Gebäude. Ich war froh, als ich wieder im Freien stand.
Ich setzte mich in meinen Jaguar und fuhr zu Harris. Er war nicht da, aber sein Assistent, Sergeant Gruber, konnte mir ebensogut die gewünschten Auskünfte geben. Gruber war knapp vierzig Jahre alt, ein robuster, stiernackiger Bursche, der weniger intelligent aussah, als er tatsächlich war. »Der Leutnant bringt Mrs. Reading nach Hause«, informierte er mich. »Ich schätze, er will sich ein Bild von ihr machen.«
»Verdächtigt er sie?«
»Sie gefällt ihm nicht.«
»Die gefällt keinem«, sagte ich, fügte aber nach kurzem Nachdenken hinzu; »Ausgenommen Reading. Er hat es immerhin fast ein Vierteljahrhundert an ihrer Seite ausgehalten.«
»Eben«, meinte Gruber und stopfte sich eine billig aussehende Pfeife, »darauf gründet sich die Theorie von Leutnant Harris.«
»Theorien!« seufzte ich. »Davon habe ich schon genug gehört.«
Gruber grinste. »Das ist nun mal unser Steckenpferd. Theorien! Aber eine paßt immer, nicht wahr? Harris scheint zu glauben, Reading könnte es plötzlich satt gehabt haben.«
»Satt?« unterbrach ich. »Was soll er satt gehabt haben? Die Ehe mit dieser Frau?«
Gruber nickte. Er hielt ein Streichholz an die Pfeife und paffte wild drauflos. »Klar! Er soll ja fast hunderttausend Dollar auf dem Konto gehabt haben. Nehmen Sie bloß mal an, er hätte vorgehabt, sich scheiden zu lassen…« Gruber legte das Streichholz in einen Ascher und verdoppelte die Zahl der Züge. Dann, als die Pfeife brannte, lehnte er sich entspannt in seinem Drehstuhl zurück.
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte ich. »Harris scheint zu denken, die -Frau brachte ihren Mann um, weil sie keine Lust hatte, den Ernährer und gleichzeitig sein dickes Sparpolster zu verlieren.«
»Genau!« meinte Gruber.
»Das setzt voraus, daß Reading eine Geliebte hatte, nicht wahr?«
»Nicht unbedingt. Vielleicht wollte er einfach frei sein!« sagte Gruber.
»Eine recht simple Theorie.«
»Simple Theorien haben etwas für sich«, behauptete Gruber. »Das weiß ich aus Erfahrung.«
»Sie müssen aber konsequent und logisch zu Ende gedacht werden, Sergeant. Wie paßt die Aussage des Taxifahrers in diese
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