0460 - Der grausame Wald
erwachte, wußte er nicht, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Jedenfalls erschrak er zutiefst, warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, daß die vierte Morgenstunde bereits angebrochen war. Sehr lange hatte er nicht geschlafen.
Aber was hatte ihn geweckt?
Das Zimmer war noch immer von der Dunkelheit umhüllt. Beim Bau des Hauses hatte man das Gästezimmer mit dem kleinsten Fenster ausgestattet. Sein Umriß malte sich in der Wand ab, und auch den Türspalt sah der Mann noch. Das Licht wollte er nicht anknipsen. Er hatte das Gefühl, sich dann zu verraten. So blieb er in der Dunkelheit liegen, spürte den Druck auf seinem Kopf, ließ seinen Arm aus dem Bett baumeln und tastete nach der Flasche.
Er war noch zu schlaftrunken, stieß dagegen, die Flasche kippte um, das Bier rann aus. Es schäumte auf den alten Teppich und versickerte.
Er fluchte innerlich, weil er sich über das Umkippen der Flasche ärgerte. Sein Durst war geblieben, den hatte er ja löschen wollen. Wahrscheinlich hatte ihn dieser Drang auch geweckt.
Oder war es etwas anderes gewesen? Hatte ihn möglicherweise das Unterbewußtsein gewarnt, denn vom Flur her hörte er nicht nur flüsternde Stimme, auch Schritte.
Sofort fielen ihm die Worte wieder ein, die seine Frau zu Ronny, dem Monster, gesagt hatte.
Sie wollten allein sein, ein Hindernis aus dem Weg räumen, ihn, den Vater töten.
Gordons Gesicht verzog sich im Dunkeln zur Grimasse. Er schob seine Hand unter das Kopfkissen und umklammerte den Griff des Messers. Als hätte er Angst, daß jemand etwas hören könnte, so vorsichtig zog er die Klinge unter dem Kopfkissen hervor und ließ die Hand dicht neben der rechten Seite seines Körpers liegen.
So wartete er ab…
Minuten vergingen, in denen sich nichts tat. Er hörte keine Schritte mehr und glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als sich der Spalt plötzlich verdunkelte.
Da stand jemand!
Auf einmal schlug sein Herz schneller. Sie waren also nicht mehr auf der Treppe, sondern bereits im Gang. Daß es sich um zwei Personen handelte, hatte er ebenfalls herausgefunden.
Vor der Tür lauerten sie nicht nur, sie unterhielten sich auch leise. Sehr deutlich war Ednas Stimme zu vernehmen. »Du kannst ruhig hineingehen«, hauchte sie. »Geh hinein, Ronny, er wird dich nicht hören, er schläft tief und fest, dieser Säufer…«
Säufer, hatte sie gesagt und ihn beleidigt. Nein, er war kein Säufer. Seymour wollte ihnen beweisen, wie nüchtern er war. Er dachte voller Ingrimm und gleichzeitiger Zuversicht an sein Messer in der rechten Hand.
Seymour dachte darüber nach, ob es sinnvoll war, die kleine Lampe einzuschalten. Nein, dann wären Mutter und Sohn nur gewarnt gewesen, er aber wollte sie überraschen.
So blieb er liegen.
Äußerlich still, aber innerlich fiebernd. Er mußte ihnen einen Schlafenden vorspielen, was gar nicht so einfach war, weil er seinen Atem zu kontrollieren hatte.
Wer die Tür letztendlich weiter nach innen drückte, sah er nicht. Jedenfalls schwang sie auf. Ein leises Schaben verriet, daß sie mit der Unterkante über den Teppich glitt. Der Spalt wurde so breit, daß sich ein Mensch hindurchschieben konnte.
Edna hielt sich zurück. Dafür schob sie Ronny vor.
Gordon brauchte ihn nicht zu sehen, er wußte auch so, wer den Raum betreten hatte, denn als Atmen konnte man die Geräusche nicht bezeichnen. Das war eher ein Keuchen oder Saugen, das aus dem Maul des Monsters drang.
Edna wartete noch. Sie stand in der Türöffnung. Vom Bett aus war die Frau gut zu erkennen. Sie hielt die Arme leicht angewinkelt und hatte die Hände gefaltet. Es sah aus, als würde sie beten. Aber Gordon wußte, daß sie nicht betete. Das hatte sie nie getan. Religiös war sie nicht gewesen, auch wenn sie sich in der letzten Zeit den Anschein gegeben hatte. Aber da hatte sie sich mehr irgendwelchen Pseudo-Religionen zugewendet.
Ronny kam.
Er atmete nicht nur ungewöhnlich, auch seine Schritte glichen nicht denen eines normalen Menschen. Immer wenn er einen Fuß vor den anderen setzte, erklang ein Schleifen, als würde er hinken.
Wann hatte er das Bett erreicht? Vielleicht jetzt, wo er stehenblieb. Gordon lag auch weiterhin auf dem Rücken. Er verdrehte jedoch die Augen, weil er zur Seite schielen wollte, um etwas erkennen zu können. Von Ronny war nicht viel zu sehen, nicht mehr als ein klumpiger Schatten, allerdings in der Nähe des Bettes hockend.
Noch tat er nichts. Vielleicht wartete er auch auf einen Befehl.
Gordon
Weitere Kostenlose Bücher