0462 - Wo der Orlock haust
eine Legende.«
»Wie kommen Sie denn darauf, Miß?« sprach ich sie an, und das Girl erschrak heftig. Es starrte mich an. Ich lächelte, weil ich die Kleine beruhigen wollte.
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist John Sinclair.«
»Sie… Sie sind fremd.«
»Ja, Miß…«
»Ich heiße Alexandra Dalton.«
»Ihr Vater leitet die Schule da oben«, erklärte ein Junge vorwitzig.
»Interessant, Miß Dalton. Wohnen Sie dort auch?«
Sie nickte.
»Und da haben Sie sich gefürchtet und etwas von diesem Orlock gesehen?«
»Mister, das geht Sie nichts an.« Ein junger Mann hatte gesprochen. »Fahren Sie wieder.«
»Überlassen Sie das uns. Wir sind nicht ohne Grund hier. Und wir haben das Recht, Fragen zu stellen.«
»Polizei?«
Ich gab ihm keine Antwort und wandte mich wieder Alexandra zu, die sich schüttelte, als hätte sie jemand mit Wasser übergossen.
»Was haben Sie oben auf dem Schloß bemerkt oder gesehen?«
»Nichts, gar nichts.«
Ich lächelte milde. »Aber lügen Sie doch nicht. Das haben Sie doch nicht nötig.«
Sie schaute mich noch einmal an, drehte sich um und lief weg.
Ihre Freundin rannte hinter ihr her. Wir blieben, da wir wußten, wo wir Alexandra wiederfinden konnten.
Unwillkürlich warf ich einen Blick auf das Schloß. Allmählich reifte in mir der Entschluß, daß wir dort oben die Lösung des Rätsels würden finden können.
Suko hatte sich mittlerweile mit dem Jungen unterhalten, den es so böse erwischt hatte. Er stand neben meinem Freund, schluchzte, schluckte und wollte keine Fragen beantworten.
»Aber du kannst uns doch sagen, wer die Figur geschnitzt hat, Robby.«
»Das war Woody. Wir nennen ihn so.«
»Na bitte, weshalb nicht gleich so? Wohnt er hier im Ort?«
»Klar.«
»Kannst du uns zu ihm führen?«
Robby überlegte, während sich Suko drehte und auf den Wagen deutete. »Wir können auch fahren.«
»Und wenn Sie mich entführen?«
»Keine Sorge, du kannst Freunde mitnehmen.«
Robby überlegte, wollte aber nicht als Feigling gelten und stimmte schließlich zu, allein mit uns zu fahren.
Es war zwar nicht viel passiert, in Anbetracht der Dinge jedoch hatten weder die Kinder noch die Jugendlichen große Lust, die Feier oder den alten Brauch fortzusetzen. Sie sprachen davon, das Feuer ausbrennen zu lassen. Nur der Betrunkene krakeelte noch. Er suchte nach Whisky und war kaum zu beruhigen.
Ich schloß dem Jungen die Tür auf. Er schaute mich ängstlich an, bevor er einstieg.
»Keine Sorge, Robby, wir halten zu dir. Oder magst du keine Polizisten?«
»Doch, eigentlich schon.«
»Na bitte.«
»Seid ihr denn von der Polizei?«
Wir rollten langsam nach Trebose hinein. »Ja, wir sind von der Polizei. Sogar von einer besonderen Truppe.«
»Scotland Yard?«
»Genau.«
»Oh, toll. Da habe ich schon Serien im Fernsehen gesehen. Ihr seid ja heiße Typen.«
»Aber nur die auf dem Bildschirm«, erklärte Suko.
»Weiß ich nicht.«
»Wo müssen wir hinfahren?« fragte ich.
»Noch geradeaus. An der Kirche links. Den Turm sieht man ja.«
In der Tat sahen wir den spitzen Gegenstand. Schon bald rollten wir durch eine schmale, mit Kopfstein gepflasterte Gasse und an einer hohen Kirchhofmauer entlang. Hinter der Kirche begleiteten uns Maschendrahtzäune. Dahinter lagen Gemüsegärten.
Woody, der Schnitzer, war gleichzeitig auch Schreiner. Er befand sich noch in der Werkstatt, denn hinter dem Fenster des flachen Gebäudes mit dem vorgezogenen Dach brannte noch Licht.
Als wir ausstiegen, hörten wir auch das leicht schrille Geräusch einer laufenden Säge. Bei diesen Lauten bekam ich immer eine Gänsehaut. Ich schaute durch eines der Fenster und sah, daß Woody Holz schnitt. Er war schon älter, trug einen dunklen Pullover, auf dem eine dünne Schicht aus Sägespänen lag. Sein Haar war grau und wuchs wie Putzwolle auf dem Kopf.
Er sah uns nicht sofort. Erst als wir fast neben ihm standen, schaute er auf.
Sofort stellte er die Kreissäge ab. Mißtrauen zeichnete sein Gesicht. »Sie wünschen?« fragte er.
»Woody, das sind zwei Polizisten«, erklärte Robby, und seine Stimme überschlug sich fast. »Sie wollen dich etwas fragen. Es geht um die Figur, sie hat nämlich geblutet.«
»Wie das?« Bei dieser Frage schaute er auf die linke Hand. Sie war teilweise mit einem Verband umwickelt, der mir noch ziemlich frisch aussah. »Haben Sie sich verletzt?« fragte ich.
»Kaum der Rede wert.«
»Wo denn?«
»Es liegt einige Stunden zurück. Da habe ich den Orlock geschnitzt.«
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