048 - Die Bande des Schreckens
daß er sich an Sheltons Boot festhielt. »Ich will Ihnen etwas zeigen -«, rief er, sprang an Bord, beugte sich nieder und reichte ihr seine Hand.
Der vernachlässigte Zustand des Bootes war, aus der Nähe gesehen, noch augenfälliger. Die Deckplanken verfaulten, der innere Bootsraum stand zolltief unter Wasser, das bei jeder Bewegung gurgelte. Long zog die Schiebetür der Achterkabine zurück.
»Hier hatte er seine Presse. Sie wurde durch Batterien betrieben - die sogar noch da sind. Kommen Sie herein!«
Sie folgte ihm gebückt in das Dunkel der Kabine. Er zündete ein Streichholz an. »Sehen Sie - hier! Ist das nicht wie eine alttestamentarische Prophezeiung?«
In die Holzverkleidung der Kabinenwand war eine Reihe von Daten eingeritzt, neun im ganzen:
1. Juni 1862 J.X.T.L.
6. Sept. 1870
9. Febr. 1894
11. März 1900
4. Sept. 1904
12. Sept. 1906
30. Aug. 1909
18. Juli 1931
1. Aug. 1932
Hinter dem Datum vom 18. Juli 1931 war ein kleines Kreuz eingeschnitzt.
»Prophezeiungen. Er übertrifft Hesekiel -«, murmelte Long vor sich hin.
»Hat er diese Daten angebracht?« fragte Nora. »Was bedeuten sie eigentlich?« »Sie geben mancherlei Auskunft - soviel steht fest«, äußerte er vorsichtig. »Der 18. Juli 1931 - das ist leicht. An diesem Tag wurde er gehängt!«
Sie zuckte unwillkürlich zurück. Die Flamme des Streichholzes erlosch. Sie standen im Dunkeln. Von einer wilden, unerklärlichen Furcht getrieben, stürzte sie an ihm vorbei ans Tageslicht. Er kam sofort nach und schob die Kabinentür fest zu.
Aus seinem Benehmen schloß sie, daß er der jetzige Eigentümer der ›Northward‹ war - was auch zutraf, obwohl niemand in der Gegend darüber Bescheid wußte.
»Diese Schnitzereien entdeckte ich erst voriges Jahr, als ich das Boot kaufte und anfing, die tafelähnlichen Doppelverschalungen an den Wänden abzureißen. Die Holztafel über diesen interessanten Daten war nicht wie die anderen Platten an die Wand festgeschraubt, sondern hing an Scharnieren.«
»Aber er konnte doch nicht den Tag seines Todes voraussehen?«
»Nein. Die Bande des Schreckens hat es für ihn besorgt.« Sie sah ihn prüfend an. Scherzte er? »Ich habe nie von so etwas gehört.«
»Aber von Hexenmeistern und Zauberern? - Aufgepaßt, mein Fräulein! Steigen Sie ins Boot - wir sind hier zu nahe am Ufer.«
Er scherzte nicht. Seine Augen schweiften über den ungepflegten Rasen vor dem leeren Haus. Breitbeinig stand er in der Mitte des Kahns und streckte ihr, ohne sie anzusehen, den Arm entgegen. Seine Aufmerksamkeit galt dem Haus mit den heruntergelassenen Jalousien und dem Gebüsch beim Lieferanteneingang.
Sie schauderte, hatte Angst. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Sie spürte die Anwesenheit eines unsichtbaren Beobachters. »Einbildung - da ist niemand«, sagte er, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. »Aber vergangene Nacht war jemand hier. Ich hatte einen Baumwollfaden vor den Türeingang gespannt, und heute morgen war er zerrissen.«
Unter seinen kräftigen Ruderschlägen bewegte sich das Boot flußaufwärts. Sie fuhren am Rasenplatz vor Benham Abbey vorbei. Er lenkte das Boot in den Schatten der Bäume, die über den Fluß hingen, ergriff einen Zweig und hielt den Kahn an. Dann begann er wieder zu plaudern.
»Man muß recht geschickt sein, um ein Doppelleben zu führen. Shelton lebte nicht nur zwei - ich weiß von sechs verschiedenen Leben, die er führte. Da gab es einen Mann, der für Childs Magazin rührselige Geschichten über herrenlose Hunde schrieb. Er nannte sich Grinstead Jackson. In Lambeth hatte ein Mann namens Simon Cole eine kleine Druckerei. In Oxfordshire pries ein Geflügelfarmer Eier und Hühner an, die er versandte. Er hatte einen gutgehenden Handel und beschäftigte zwei Dutzend Angestellte. H. P. Pearce stand im Telefonbuch. Bei Temple nannte ein älterer Herr ein Landhaus und ein Motorboot sein eigen. Er angelte viel und war am Fluß als der beste Barbenangler bekannt. Walter James Evanleigh lautete der Name auf seinem Briefpapier. - Falls Sie jedoch in den Archiven von Scotland Yard nach diesen Männern suchen, dann brauchen Sie einfach unter dem Namen Shelton nachzuschlagen. Und das ist auch schon alles, was ich über ihn weiß. Was ich nicht weiß, würde vermutlich etliche Regale in Mr. Monkfords Bibliothek füllen.«
»War er verheiratet?« fragte sie gebannt.
»Es scheint nicht.« Er warf einen kurzen, forschenden Blick auf sie.
»Seinen eigenen Tod hat er selbstverständlich
Weitere Kostenlose Bücher