0485 - Whisper - der Staubgeist
ihn so plötzlich, und da mußte ich einfach kommen.«
Ich legte einen Arm um sie. »Und jetzt gehen wir. Irgendwo müssen wir ja auf Menschen treffen, die nicht sterben.«
Janine sprach nicht mehr dagegen. Wir nahmen die Treppe nach oben. Im Haus war es unnatürlich ruhig und dämmrig. Auch von draußen hörten wir kaum Geräusche. Die Wagen, die auf den Straßen fuhren, glitten fast lautlos dahin, Stimmen wurden zu wispernden Lauten gedämpft, nur manchmal hatten wir den Eindruck, als wäre jemand in der Nähe, der tief und schwer Atem holte.
Wir erreichten die erste Etage. Janine blieb stehen und deutete auf eine schmale Zimmertür. »Hier habe ich gewohnt.«
»Möchten Sie hineingehen?«
»Nicht zuerst.«
Suko öffnete die Tür. Der Raum war klein, gemütlich eingerichtet – und leer.
»Nichts«, meldete Suko. »Sie haben sich umsonst Sorgen gemacht.«
»Das glaube ich auch.« Die Sorgen wurden nicht kleiner, denn wir fanden den Rest der Familie Remi nicht. »Sie sind nicht da!« flüsterte das Mädchen. »Wo können sie sein?«
Ich beobachtete sie, sah den Schrecken auf ihrem Gesicht, und plötzlich umklammerte sie hart meinen Arm. »Sie sind doch nicht weg oder tot, Monsieur?«
»Das glaube ich nicht.«
»Glauben und wissen sind zweierlei.« Sie schluckte. »Wenn das wahr wäre, dann…«
»Wir werden sie suchen, Janine.«
»Wo denn?«
»Lassen Sie uns durch Alcoste gehen, ja?«
»Ich kann nur zustimmen.«
Sehr bald standen wir wieder draußen. Das Haus lag erhöht, wir blickten auf die Dächer. Die Umgebung hatte sich verändert. Alcoste war tot, und es lebte trotzdem. Die Lichter wirkten gespenstisch.
Helligkeit fiel aus den Fenstern, wurden von den Kuppeln der Straßenlampen abgestrahlt oder von erleuchteten Geschäftsreklamen.
Wir sahen Menschen auf den Gehsteigen. Jugendliche fuhren auf ihren Mopeds durch den Ort. Sie trafen sich nahe einer großen Eiche, wo auch alte Leute auf der Bank saßen, die den Baumstamm wie ein weißer Bart aus Holz umgab.
»Sie alle leben!« sagte ich leise.
»Ja, aber wie!« gab Janine zurück.
»Kommen Sie. Wir sehen uns die Dinge einmal aus der Nähe an.«
Janine nahmen wir zwischen uns. Zwei Minuten später, wir waren durch eine schmale Gasse gegangen, erreichten wir die breiteste Straße des Ortes.
Zwei Teenager, bunt gekleidet, schlenderten auf uns zu. Janine sagte ihre Namen, aber die beiden kümmerten sich nicht um sie. Da wir den Gehsteig versperrten, drückten sie sich an uns vorbei und gingen auf der Straße weiter.
Janine starrte mich an. »Das… das gibt es nicht!« hauchte sie.
»Weshalb haben die uns nicht angesehen?«
»Vielleicht haben die Sie nicht erkannt.«
»Das kann nicht sein. Ich kenne sie gut. Wir waren oft zusammen, glauben Sie mir.«
»Dann müssen Sie unter einem Schock oder Streß stehen«, sagte ich. »Vielleicht hat Whisper ihren Geist beeinflußt. Sie sind allein auf sein Ziel konzentriert.«
»Das ist aber schlimm. Dann können wir nichts mehr tun.«
Ich widersprach. »Wir werden etwas tun.«
»Und was?«
»Wir gehen dorthin, wo einmal die Kathedrale der Angst gestanden hat«, erklärte ich.
»Und dann?«
»Es gibt dort ein Geheimnis, das wir unbedingt lüften wollen. Was es ist, darüber möchte ich mit Ihnen nicht sprechen. Aber glauben Sie mir, so wehrlos sind wir nicht.«
Suko nickte mir zu. Er hatte begriffen und meinen Plan verstanden. Ich wollte mit dem in Kontakt treten, der in mir wiedergeboren war. Mit Hector de Valois, dem silbernen Skelett, das in der Kathedrale aufgebahrt worden war.
Janine schüttelte sich. »Ich habe von diesem Ort gehört. Niemand traut sich dorthin, weil unheimliche Dinge in ihm vorgehen.«
»Vorgegangen sind«, sagte ich. »Jetzt ist es anders. Wir haben den Ort befreien können.«
»Und was wollen Sie da?«
»Auf Whisper warten.«
Sie schlug ihre Hand gegen die Lippen. »Das… das schaffen Sie doch nicht. Er wird sich Ihnen nicht zeigen. Und wenn, dann kann er Sie vernichten. Sie kennen ihn ja.«
»Wir warten es ab.«
»Den Weg kenne ich«, sagte sie leise. »Wir müssen auf die dunklen Felsen zugehen. Da finden wir dann…« Plötzlich verstummte sie und schaute starr geradeaus.
»Was haben Sie?« fragte Suko.
»Der… der Mann dort, der uns entgegenkommt.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist mein Vater!«
***
Wir verstanden ihre Aufregung. Sie wollte auf den dunkelhaarigen Mann zulaufen, aber ich hielt sie fest. »Nein, Janine, wenn er wirklich Ihr Vater ist, wird
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