0492 - Dem Henker gestohlen
höflich nach den Wünschen eines Besuchers fragen. Von tätlichen Angriffen ganz abgesehen.«
»Sind Sie fertig mit Ihrer Moralpredigt?« fragte sie schnippisch.
Ich machte kurzen Prozeß. »Wenn Sie mich jetzt nicht sofort bei Rechtsanwalt Nicholson anmelden, sehe ich darin den Versuch, mich als FBI-Beamten an der Ausübung meines Dienstes zu hindern. Was die Folgen davon sind, wissen Sie sicher!«
»Ach«, sagte sie verwundert, »Sie sind dienstlich hier?«
Ich schob sie zur Seite und ging an ihr vorbei durch die Tür. Dann drehte ich mich um und wartete, bis sie mir nachkam. Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, ging sie auf eine Tür zu, klopfte kurz an, öffnete und sagte in den Raum hinein: »Ein Polizist möchte Sie sprechen!«
Diesem Satz konnte ich entnehmen, daß Nicholson allein in seinem Büro war. Ich verzichtete deshalb auf alle Förmlichkeiten. Mit zwei Schritten war ich an der Tür.
»Guten Tag, Mr. Nicholson. Wir kennen uns bereits.«
Er klemmte sein Monokel ins Auge und musterte mich kurz und sagte: »Ach ja, Mr. Cotton vom FBI!«
»Richtig!«
Er wandte sich an die eiskalte Sekretärin: »Linda, FBI-Beamte sind keine Polizisten, sondern Spezialbeamte!«
Sie antwortete nicht, sondern schloß die Tür hinter mir.
»Sie dürfen es ihr nicht übelnehmen, Mr. Cotton«, sagte er gleich darauf. »Linda ist…« Er stockte und überlegte sich offensichtlich seine nächsten Worte sehr genau. »Ich hatte einmal einen Mandanten, der auf sehr merkwürdige Weise in einen Mordfall verwickelt wurde. Leider konnte ich ihm nicht sehr helfen. Ich war von seiner Unschuld überzeugt, aber ich konnte die Geschworenen nicht überzeugen. Er starb auf dem Elektrischen Stuhl. Linda ist seine Tochter. Sie war damals zwölf Jahre alt. Es ist verständlich, daß sie etwas gegen G-men hat. Ihr Vater wurde vom FBI überführt.«
Ich schaute zur Tür, und ich war überzeugt, daß Linda hinter dieser Tür unser Gespräch belauschte.
»Wie heißt sie?« fragte ich, um einen Übergang zu dem beabsichtigten Gespräch zu finden.
Er zögerte einen Augenblick. »Randall«, sagte er schließlich. »Linda Randall.«
»Ich hoffe, daß Miß Randall eines Tages eine bessere Meinung hat als jetzt«, sagte ich. »Beispielsweise dann, wenn wir verschiedene Ereignisse aufklären, die mit Ihnen, Miß Randalls Wohltäter also, Zusammenhängen.«
»Sie spielen wieder auf den Fall Touchney an?« fragte er und nahm das Monokel aus dem Auge.
»Ja. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Mr. Nicholson, daß Sie sich möglicherweise in unmittelbarer Gefahr befinden. Gestern vormittag wurden zwei Mordanschläge auf Ihren bisherigen Mandanten Touchney verübt. Es ist nicht ausgeschlossen…«
Er sprang auf. »Mr. Cotton, es ist ausgeschlossen! Ich weiß, was Sie sagen wollen. Bereits gestern habe ich Ihnen gesagt, daß ich ahne, was Touchney bevorsteht. Wenn die Zeugenaussagen, auf Grund deren er freigesprochen wurde, falsch sein sollten…«
»Gestern haben Sie gesagt, daß die Zeugenaussagen falsch sind«, erinnerte ich ihn.
»Das habe ich nie gesagt!« warf er ein.
»Ich habe einen Zeugen dafür!«
»Es tut mir leid, Mr. Cotton, ich war außerordentlich erregt. Vielleicht habe ich mich nicht ganz korrekt ausgedrückt. Ich schließe die Möglichkeit nicht aus, daß die Zeugenaussagen falsch waren. Aber diese Möglichkeit wird auch von Richter Emerett und Staatsanwalt Intosh nicht ausgeschlossen!«
Damit hatte er recht. »Gut«, sagte ich, »bleiben wir bei der Formulierung ›wenn sie falsch sein sollten‹. Was ist dann?«
»Dann wurde Touchney von einer mir nicht bekannten Stelle absichtlich aus dem Gewahrsam der Justiz befreit, um ihn für einen Racheakt zur Verfügung zu haben. Ich erwähnte gestern bereits den Namen Pedro Gonzales. Wenn Touchney Gonzales umgebracht hat, dann hat er damit sein eigenes Todesurteil gesprochen. Das wissen Sie. In Gangster kr eisen ist es nicht anders.«
»Sie sind sehr gut informiert, Mr. Nicholson«, konterte ich.
»Ich bin seit nahezu dreißig Jahren Strafverteidiger und war vorher vier Jahre Staatsanwalt, Mr. Cotton«, klärte er mich auf.
»Wenn Sie Staatsanwalt waren, Mr. Nicholson, dann werden Sie auch verstehen können, wie sehr uns an einer Aufklärung der Sache gelegen ist!«
»Ich kann Sie sehr gut verstehen, Mr. Cotton. Sie müssen aber auch mich verstehen können!«
»Sie bleiben also dabei, in der Kidnappingsache, die Ihr Enkelkind betraf, nichts zu
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