0492 - Dem Henker gestohlen
sich unser New Yorker Hospital und das FBI fast nebeneinander befinden, treffen wir uns selten.«
»So ist es meistens«, antwortete ich. »Wir kommen weitaus öfter zum Medical Center als hierhin.«
»Das liegt wohl auch daran«, meinte Phil, »daß die wenigsten unserer Kunden ausgerechnet in unmittelbarer Nähe unseres Distriktgebäudes tätig werden oder gar freiwillig zu uns kommen und dann von ihren Standesgenossen bei uns im Haus überfallen werden.«
Dr. Wilson wurde ernst. »Sie haben uns gestern nachmittag diesen Webster Touchney geschickt. Ist der Mann…« Er vollendete die Frage nicht.
»Touchney befindet sich auf freiem Fuß, Doc«, informierte ich ihn.
»Aber es ist doch jener Touchney, der in diesen Mordprozeß verwickelt ist?«
»War, Doc. Touchney war wegen vierfachen Mordes angeklagt, aber er wurde von der Anklage freigesprochen.«
»Und?« fragte er nur kurz.
»Wie geht es ihm?« wollte Phil wissen.
»Er hat Glück gehabt. Aus Ihrem Bericht weiß ich, daß er auf eine Schreibtischkante gestürzt ist. Dabei hat er sich eine Splitterung des Schläfenbeins zugezogen. Er befindet sich nicht in Lebensgefahr«, erklärte Doktor Wilson. »Aber vernehmen können Sie ihn noch nicht!«
Wir zuckten ergeben die Schultern. Gegen die Entscheidung des Docs ließ sich nichts machen.
»Okay«, brummte Phil. »Kümmern wir uns erst einmal um die beiden Jungen im Fall Gonzales. Vielleicht bringt uns das weiter.«
***
Ich fuhr Phil in die obere Bronx und ließ ihn an der Longwood Avenue aussteigen. »Du kennst ja die Gegend hier. In den verschiedenen Kneipen rund um die Westchester Avenue war Gonzales’ Revier. Versuch mal unauffällig, etwas zu hören. Inzwischen ist ja soviel Gras über die Sache gewachsen, daß es nicht mehr auffällig ist. Andererseits gibt der Freispruch wieder genügend Gesprächsstoff her.«
»Hoffen wir’s«, sagte Phil. Er fuhr sich mit gespreizten Händen von hinten durch die Haare, so daß ihm eine sonst nicht vorhandene Stirnlocke über die Augen hing. Schnell band er sich seinen Schlips ab.
»Du solltest zu einer Bühne gehen«, schlug ich lachend vor, »jetzt siehst du genauso aus, wie sich der kleine Jimmy einen Gangster vorstellt!«
»Gut«, nickte er. »Hauptsache, ich sehe nicht so aus, wie sich der kleine Jimmy einen G-man vorstellt!«
Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, begann ein Lied von der rauhen Sorte zu pfeifen und schlenderte davon.
Ich ließ meinen Jaguar wieder in den Verkehrsstrom gleiten und fuhr zurück in die Downtown. Eine Viertelstunde später stand ich in der Fifth Avenue vor dem vornehmen Haus, in dem Rechtsanwalt Nicholson seine Praxis hatte.
In der Tür empfing mich eine Sekretärin, die ihren Freischwimmerschein im nördlichen Eismeer gemacht haben mußte. Sie hatte sich seitdem nicht mehr erwärmt. »Sind Sie angemeldet?« fragte sie, ohne sich um meinen freundlichen Gruß zu kümmern.
»Sind Sie Amerikanerin?« entgegnete ich.
Ich erwartete, daß sie jetzt ihre Augen äufreißen würde. Das Gegenteil war der Fall. Sie kniff sie so zusammen, daß außer den gutgetuschten Wimpern nichts mehr zu sehen war.
»Was willst du, Sonny?« fragte sie. Ich wollte gerade darüber staunen, daß die Sekretärin des bekannten und teuren Anwaltes Nicholson einen derartigen Wortschatz hatte, kam aber nicht mehr dazu. Sie ergriff nämlich meine rechte Hand, wirbelte sie herum, und um ein Haar hätte sie auch noch den beabsichtigten Schlag gegen meine Schlagader führen können. Ich bin aber nun gar nicht der Ansicht, daß der Name Schlagader daher kommt, daß man sich darauf schlagen lassen soll.
Ich wehrte also den Angriff kunstgerecht ab. »Sie sollten nicht soviel über George Nader lesen«, riet ich ihr. »Der beherrscht das auch nur im Film. Und jetzt melden Sie mich bitte an, Miß!«
Sie rieb sich das Handgelenk, das ich nicht ganz zärtlich behandelt hatte.
»Wer sind Sie?«
»Cotton vom FBI«, sagte ich und zeigte ihr auch gleich meinen Ausweis. Ich wußte ja vom Telefongespräch am vergangenen Morgen her, daß sie Wert darauf legte.
Doch sie beachtete ihn gar nicht. »Es kann ja nur ein Schutzmann sein, der sich derartig schlecht benimmt. Was wollen Sie?«
»Miß, ich lege Wert auf die Feststellung, daß Sie sich nicht so korrekt benommen haben, wie es zu erwarten ist. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich Ihren Chef darüber unterrichten werde. Ohne Rücksicht darauf, wer hier klingelt, sollten Sie mindestens einen Gruß erwidern und
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