0492 - Dem Henker gestohlen
Schmerz war da. Mehr nicht.
Der Mörder schaute nachdenklich auf das große Fenster. Der Himmel wurde immer dunkler.
Wie Blut.
Der Uhrzeiger bewegte sich immer weiter vorwärts, der Nacht entgegen. Touchney wußte, daß nur eine alte Nachtschwester auf der Station war. Nachts hatte er die größte Chance, unbemerkt das Hospital verlassen zu können.
Der Mann kannte das New York Hospital. Irgendwann vor Jahren einmal war er in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen, und im New York Hospital hatte man ihm einen Verband angelegt. Die Unfallstation war unten, im Erdgeschoß. Tag und Nacht kamen hier Patienten herein, gingen Patienten hinaus. Auch mit dem Kopfverband würde er nicht auffallen.
Er schlug die leichte Bettdecke zur Seite und schwang sich heraus. Für einen Moment wurde der Schmerz in der Schläfe wütend und stechend. Touchney blieb auf dem Bettrand sitzen. Der Schmerz ebbte wieder ab. Der Mann stand auf. Er taumelte, und vor seinen Augen wurde es schwarz. Aber auch dieses Gefühl ging vorüber.
Im Kleiderschrank hingen seine Sachen. Touchney ging leise zur Tür, öffnete sie einen Spalt weit und lauschte hinaus. Der Gang war still. Unheimlich still. Der Mann riskierte einen Blick nach draußen. Noch war der Gang hell erleuchtet. In einer Stunde würde sich das wieder ändern. Die Nachtbeleuchtung war blau, kalt und tauchte alles in ein schemenhaftes Licht.
Touchney wollte es nicht noch einmal erleben.
Langsam zog er sich an. In kurzen Abständen lauschte er hinaus. Es blieb still. Er wußte, daß er eine knappe Stunde Zeit hatte. Erst kurz vor neun Uhr würde die Nachtschwester in jedes einzelne Zimmer schauen und nach etwaigen Wünschen für die Nacht fragen.
Reich war der Mörder nicht mehr. Knapp hundert Dollar steckten noch in den Taschen seines Anzuges. Aber das Geld mußte reichen.
Mindestens für eine Pistole.
»Ich will nicht sterben«, dachte Touchney. »Ich nicht.«
Plötzlich erstarrte er in seinen Bewegungen. Angestrengt dachte er nach. Er sah eine Chance für sich. Er lächelte. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er ein lächelndes Gesicht. Er nickte sich selbst zu, obwohl sein Lächeln kalt und grausam war.
Hastig vollendete er seine Garderobe.
Noch einmal öffnete er leise die Tür seines Krankenzimmers und lauschte hinaus. Irgendwo hörte er leise tappende Schritte. Sie verklangen in der Ferne.
Touchney riskierte es, die Tür weit zu öffnen.
In diesem Moment hörte er wieder tappende Schritte. Sie dröhnten durch seinen Kopf, der jetzt entsetzlich schmerzte. Er sah und hörte Gestalten, und er spürte Hände, die nach ihm griffen. Touchney stieß einen gellenden Schrei aus. Und dann lachte er. Es klang gespenstisch durch die Gänge.
***
»Mist!« brummte Corporal Warren Palater.
Er saß als Streifenführer in dem Wagen, der über den Franklin D. Roosevelt-Drive, die Hochstraße am östlichen East-River-Ufer von Manhattan, nordwärts fuhr.
»’runter?« fragte Jim Earner, der Fahrer. Auch er hatte deutlich das Stakkato einer Maschinenpistolensalve gehört.
»Wir kommen garantiert zu spät«, sagte Palater. Er hatte sogar das Mündungsfeuer gesehen. »Das war auf Pier 70, etwa in der Mitte!«
»Das ist doch der Pier vom Sanitation Department«, erinnerte sich Earner. »Rotlicht?«
»Nein«, sagte der Streifenführer. »Laß mal. Vielleicht können wir sie doch noch abfangen!«
Er griff zum Mikrophon des Funksprechgeräts und gab die Meldung an die Zentrale durch. Kurz darauf hörte er die Stimme des Mannes in der Centre Street: »Achtung, an alle! Wer steht in der Nähe von Pier 70?«
»Skyline 83!« kam die Rückmeldung. »Wir stehen Essex Avenue!«
»Skyline ,114! Wir stehen Stuyvesant Square!«
»…Maschinenpistolenfeuer auf Pier 70! 83 und 114, fahren Sie hin und unterstützen Sie Skyline 99! Ende!«
»Verstanden, Ende!« antworteten die Streifenführer von 83 und 114 wie aus einem Munde.
Der Streifenwagen 99 mit Earner am Steuer raste bereits durch die östliche 23. Straße und die kurvenreiche Peter Cooper Road, um die Pier 70 zu erreichen. In der 23. war der Verkehr dicht.
»Jetzt Rotlicht und Musik!« befahl Palater. Das Inferno begann, und die Zivilfahrzeuge schoben sich zur Seite. Ein Autobus wich behäbig aus, und es vergingen wertvolle Sekunden, ehe das Fahrzeug in das kurze Stück der First Avenue entlang der Peter Cooper Village einbiegen konnte. Mitten auf der schlangenförmig gewundenen Straße durch dieses merkwürdige Stück Manhattans
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