0492 - Die Wölfin von Rom
Werwölfe«, sagte ich mit leiser Stimme.
Sie erwiderte zunächst einmal nichts. Für einen Moment senkte sie den Kopf und starrte auf ihren Teller, wo die Reste einer Brotscheibe lagen. Marcella schauderte zusammen, sie hob ihre runden Schultern und ließ sie wieder fallen. »Wenn du das sagst«, flüsterte sie, »dann will ich dir glauben.« Hastig schlug sie ein Kreuzzeichen.
»Werwölfe«, fuhr sie fort, »das ist schlimm, das ist grauenhaft, ich habe davon gehört. Gerade wir in Rom haben ja eine besondere Beziehung zu den Wölfen. Romulus und Remus, sie haben die Stadt der Legende nach gegründet, das weißt du sicherlich…«
»Ja, und ich kann mir vorstellen, daß dieses Erscheinen der Wölfe möglicherweise mit dieser Legende zu tun hat.«
»Kann es so etwas geben?«
»Deshalb bin ich hier.«
»Aber die beiden Gründer Roms waren keine Werwölfe!« hielt mir die Witwe entgegen.
»Das stimmt. Nur wissen wir auch nicht, ob es sich bei den gesichteten Tieren tatsächlich um Werwölfe handelt. Das möchte ich dahingestellt sein lassen.«
»Du willst es herausfinden.«
»Deshalb bin ich gekommen. Und ich suche auch den Anführer der Wölfe.«
»Muß es den geben?«
»Bestimmt«, erwiderte ich mit Nachdruck. »Hinter jeder noch so unwahrscheinlichen Aktivität steckt immer ein Kopf. Sei es nun ein Mensch oder ein Dämon. Ich kann dir versichern, Marcella, daß Dämonen existieren. Es gibt Vampire, Werwölfe und auch Zombies. Ich habe gegen solche Monster schon gekämpft.«
»Savini deutete so etwas an, obwohl ich ihm das einfach nicht glauben konnte.«
»Mir denn?«
Sie nickte. »Si, John, si. Dir glaube ich es. Du bist keiner dieser Protzer, die mit ihren Erfolgen angeben und immer etwas hinzudichten. Ich glaube dir deine Worte.« Sie griff zur Kaffeekanne und schenkte noch einmal ein.
Hinter ihr befand sich ein Fenster. Es war blank geputzt, so daß ich nach draußen blicken konnte und mein Blick auf einen ziemlich großen Hinterhof fiel, den ich hier nicht vermutet hätte. Der Hof diente als Parkplatz. Nicht nur für Autos, auch für Fahrräder und Feuerstühle. Eine Wellblechbude sah aus wie eine Garage.
Über Rom stand bereits der Morgen. Ein heller, ein strahlender Tag kündigte sich an. Die Sonne hatte die langen Schatten der Dämmerung zur Seite geschoben. Der Himmel glänzte azurblau und wolkenlos. Dieser Frühlingstag war wie geschaffen, um etwas zu erleben. Über einige Dächer trieben noch letzte Dunstschwaden hinweg. Wahrscheinlich waren sie am Tiber aufgestiegen.
Ich dachte an die Wölfe. Sollten es tatsächlich Werwölfe gewesen sein, so würden sie sich bestimmt nicht tagsüber zeigen. Diese Bestien waren Geschöpfe der Nacht.
Aber in diesem Viertel waren sie gesehen worden. Um den Campo di Fiori herum liefen sie, hatten sie ihre Verstecke, um sie zu gewissen Anlässen verlassen zu können.
»Willst du nicht noch etwas essen?«
Ich hob beide Hände. »Nein, um Himmels willen. Das ist unmöglich, Marcella.«
»Aber du mußt richtig satt sein, John. Ich kann es nicht zulassen, daß du aufstehst und…«
»Ich bin satt.«
Sie griff zu einem Konfitürenglas. »Aprikose« sagte sie. »Ich habe sie selbst hergestellt und…«
»Bitte nicht!« Ich rang die Hände, und in meine Antwort erklang das Knurren der Wölfin.
Bisher hatte Nadine auf dem Küchenboden gelegen, ohne sich zu rühren. Sie schien eingeschlafen zu sein, doch ich kannte sie besser.
Nadine war ein Tier, das immer wachte. Zu Hause in London über Johnny Conolly, ihren Schützling. In Rom war sie nicht dabei gewesen. Hätten Bill und Sheila sie mitgenommen, wäre die Entführung bestimmt nicht geschehen. Jetzt mußte Nadine zeigen, ob sie es schaffte, den Jungen zu finden.
Es blieb nicht beim Knurren. Die Wölfin richtete sich plötzlich auf, wobei sich ihr Fell sträubte. Sie drehte mir kurz den Kopf zu.
Ich hatte dennoch Gelegenheit, in ihre Augen zu sehen.
Sie zeigten jetzt einen anderen Glanz. Mittlerweile kannte ich Nadine lange genug, um erkennen zu können, was sie empfand.
Dieser Blick zeigte mir eine gewisse Warnung. Sie hatte etwas gespürt, das wir Menschen nicht hatten wahrnehmen können.
Auch Marcella war aufmerksam geworden. »Was hat sie?« fragte sie leise.
»Irgend etwas ist passiert.«
»Und was?«
»Keine Ahnung, noch nicht. Aber laß sie mal in Ruhe. Sie wird es uns sicherlich zeigen.«
Nadine setzte sich in Bewegung. Sie ging sehr langsam, fast im Trott, und sie blieb vor dem Fenster
Weitere Kostenlose Bücher