0492 - Die Wölfin von Rom
für einen Moment stehen, dann richtete sie sich auf die Hinterläufe und legte die beiden Vorderpfoten auf die schmale Fensterbank.
Marcella hatte sich gedreht. »Sie blickt aus dem Fenster«, sagte sie. »Wieso?«
Ich stand auf und schob dabei meinen Stuhl zurück. »Das muß etwas zu bedeuten haben.« Mit wenigen Schritten hatte ich Nadine erreicht und blickte ebenfalls durch die Scheibe in den Hof. Da das Fenster ziemlich hoch war, gelang es mir, meinen Blick über die Dächer der Häuser schweifen zu lassen.
Auf ihnen lag das Licht der frühen Morgensonne wie ein goldener Schein.
Nadine blieb in ihrer Haltung. Noch immer knurrte sie. Hinter mir erhob sich Marcella. Auch ihr Stuhl schabte mit den Beinen über den Boden.
Sie trat zu mir und blieb dicht hinter mir stehen. »Was hat sie denn?«
Ich wollte ihr erklären, daß ich es nicht wußte, das aber stimmte nicht, denn auf einem der Dächer rechts von uns erschien plötzlich eine vierbeinige Gestalt.
Ein Wolf!
***
Ich hörte Marcella hinter mir scharf atmen. Sie saugte die Luft ein, als wäre ihre Kehle ein Trichter. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter, während sie flüsterte: »Das ist er. Das ist dieser Wolf oder einer von ihnen.«
Ich gab keine Antwort, weil mich das Tier interessierte. Sein Fell war grau. Er erinnerte an einen Schäferhund. Wenn ich seine Größe mit der neben mir stehenden Nadine verglich, so war er kleiner.
Den Kopf hielt er so gedreht, daß er zu uns schauen konnte. Es sah so aus, als wollte er etwas von uns.
Nadine wurde unruhiger. Das Knurren nahm an Lautstärke zu, sie schüttelte einige Male den Kopf, ihr Fell sträubte sich, und mir war klar, was sie wollte.
Ich drehte mich scharf um. Marcella war noch blasser geworden.
»Wir müssen raus«, sagte ich. »Und zwar auf das Dach. Wie kommen wir dorthin? Gibt es einen Weg?«
»Ja.« Sie nickte.
»Schnell!«
»Komm.« So gewaltig Marcella vom Körperumfang auch war, als sie sich umdrehte, geschah dies sehr schnell. Die Witwe lief voran.
Sie tauchte in den Flur, und ich rechnete damit, daß sie zur Haustür laufen würde. Da hatte ich mich geirrt. Marcella schlug einen knappen Bogen nach rechts und lief die Holztreppe hoch.
Am Fuß der Treppe blieb ich stehen. Neben mir wartete zitternd die Wölfin. »Wo willst du hin?« rief ich der Frau nach.
»Ich kenne einen Weg.« Sie blieb auf dem ersten Absatz stehen.
»Schnell, sonst ist er weg.«
Marcella lief weiter. Das war auch für Nadine das Startzeichen.
Die Wölfin hetzte mit langen Sprüngen hinter ihr her und hatte sie bald erreicht. Ich konnte nicht an der Witwe vorbei, sie nahm fast die Breite der Treppe ein.
In der ersten Etage blieb sie stehen, winkte mir und öffnete eine bis zum Boden reichende Tür. Der Weg führte auf einen kleinen Balkon, nur ein Vorsprung, mehr nicht. Aber von ihm aus war es nicht schwierig, das Nachbardach zu erreichen.
Die Sonne blendete mich, ich setzte die dunkle Brille auf und tastete nach meinen Waffen. Okay, es konnte losgehen, ich hatte die Beretta und den Dolch während der Fahrt wieder eingesteckt.
Nadine hatte es besser. Mit einem kraftvollen Sprung überwand sie das hinderliche Geländer, auf dessen Rand ich erst noch klettern mußte. »Viel Glück!« rief mir Marcella nach, die zurückblieb, während ich leicht in die Knie ging und sprang.
Es war ein guter Sprung, obwohl ich für einen Moment befürchtete, mein Ziel zu verfehlen. Mit dem rechten Fuß zuerst landete ich auf dem leicht abgeflachten Dach, zog das linke Bein dann nach, bückte mich und klammerte mich fest.
Nadine war zum First gelaufen und wartete dort auf mich.
Ich lief zu ihr, sah den Wolf aber nicht. Dafür hatte ich einen prächtigen Blick über den Campo.
Wie Schachteln standen die zahlreichen Häuser neben- und hintereinander. Die meisten Fassaden zeigten ein schmutziges Weiß, in dem oft die Grautöne überwogen. Die Ziegel der flachen Dächer, mal rot, mal blaß, glänzten im Schein der Morgensonne.
Vom Campo her schallte der Lärm des allmählich beginnenden Marktes zu mir hoch. Wenn ich den Kopf reckte, konnte ich die bunten Farben der dort aufgespannten Schirme sehen.
Marcella stand jetzt auf dem Balkon. »Siehst du ihn?« rief sie mir zu.
»Nein, er muß etwas bemerkt haben.«
»Laß Nadine ihn suchen.« Die Witwe fuchtelte mit beiden Armen. »Mach schon John.«
Ich winkte ihr zu. »Aber sicher doch.« Dann beugte ich mich zu der Wölfin mit der menschlichen Seele hinab. »Komm,
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