0509 - Der Würger auf dem Schienenstrang
es sich gerade ergibt. Ich werde in New York starten, die anderen irgendwo. Sie sollen mir alles beibringen, was einen richtigen Tramp zum Tramp macht. Ich will die Sprache lernen, die Tramps sprechen, und die 'geheimen Zeichen, mit denen ihr euch gelegentlich verständigt. Ich will lernen, wie man auf Züge auf- und abspringt. Ich will wissen, was erfahrene Tramps im Sommer tun und was im Winter, wohin sie sich im Frühling wenden und welche Gegend sie im Herbst bevorzugen. Ich muß erfahren, wie sie essen, schlafen, trinken, gehen und stehen. Wenn sie besondere Flüche haben, will ich sie hören, bis ich sie absolut fehlerfrei aussprechen und anwenden kann. Mit einem Wort: Ich will ein Tramp werden, als wäre ich es seit vielen Jahren. Jetzt wissen Sie, um was es geht, Jimmy. Wollen Sie mir helfen — ja oder nein?«
Sowohl Phil als auch ich blickten gespannt auf den alten Mann, der länger als irgend jemand sonst als Tramp kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten gereist war und sein Handwerk aus dem Handgelenk heraus verstehen mußte. Jimmy schien zu spüren, daß es für uns eine sehr wichtige Entscheidung war, die er zu fällen hatte. Er stand auf und sah mich finster an.
»Sie werden sich wundern«, brummte er. »Aber Sie haben Glück. Einen besseren Lehrer als mich können Sie gar nicht auftreiben, weil es keinen besseren gibt. Wann fangen wir an?«
»Auf der Stelle«, sagte ich.
***
Abends um neun Uhr war die Luft im Dienstzimmer der Detroiter Mordkommission zum Schneiden dick. Rauch von ungezählten Zigaretten, von ein paar Zigarren und aus der Pfeife des Polizeifotografen zog schwadenweise durch die Lichtkegel der eingeschalteten Schreibtischlampen. Die Männer saßen in Hemdsärmeln hinter den Tischen, auf der Holzbank jenseits der Barriere für das Publikum und selbst auf den Tischkanten. Es gab kein richtiges Konferenzzimmer, und so mußte man sich behelfen, so gut es ging. Alle Gesichter zeigten den abgespannten Ausdruck einer seit fast zehn Stunden ununterbrochenen Arbeit.
Draußen in den Korridoren war der Teufel los. Fernsehgesellschaften aus allen Teilen des Landes hatten Reporter und Kamerateams geschickt, um das aufgebrachte Land über das vierte Opfer des mysteriösen Eisenbahnmörders unterrichten zu können. Dazu kamen Leute von den großen Presseagenturen, von Illustrierten und Zeitungen, Journalisten der Lokalpresse und Reporter mit tragbaren, umgehängten Tonbandgeräten von verschiedenen Rundfunkstationen.
Aris hatte sich fünfzehn Minuten lang dem Heer der Presse gestellt, aber anschließend hatte er fünf Cops mit untergehakten Armen als lebende Kette vor der Tür zum Dienstzimmer Posten beziehen lassen, so daß er sicher sein konnte, daß die Mordkommission bei ihren Beratungen nicht gestört würde.
Zu dem FBI-Agenten Tony Martens war der Chef des Detroiter FBI-Büros gestoßen. Die beiden Beamten der Polizei des Bundes hatten dicke Notizbücher aufgeschlagen und schrieben eifrig jede Äußerung mit, die fiel. Für sie schien es nichts zu geben, was nicht wichtig gewesen wäre.
»Also fassen wir den ersten Abschnitt zusammen«, sagte Aris und blickte von seinen Notizen auf. »Der Tod des Mädchens erfolgte durch Erwürgen — wie in den drei ähnlichen Fällen vorher. Die Leiche wurde anschließend verstümmelt, und zwar ebenfalls auf eine Art und Weise, die der in den anderen Fällen entspricht. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann man damit annehmen, daß es sich in allen vier Fällen um ein und denselben Mörder handelt. Jetzt zur Person des Mädchens. Rachton, das war Ihr Gebiet.«
Joe Allan Rachton, Detective Sergeant der Mordabteilung, war 38 Jahre alt und ein ausgesprochener Phlegmatiker. Niemand konnte sich erinnern, ihn je aufgeregt erlebt zu haben. Aber was er manchmal vielleicht an Schnelligkeit vermissen ließ, glich er durch eine nicht abzünutzende Ausdauer aus.
»Der Trainingsanzug, den das Mädchen getragen haben muß, als sie heute früh Haus oder Wohnung verließ, deutete doch darauf hin«, begann Rachton, »daß ein irgendwie geartetes sportliches Training beabsichtigt war. Wir konnten in der ganzen Umgebung des Sportplatzes keinen Wagen finden, der dem Mädchen hätte gehören können. Also war sie entweder zu Fuß oder mit einem Bus gekommen. Vor sechs Uhr verkehrt die nächste Buslinie nur alle fünfundvierzig Minuten. Ich telefonierte eine Weile mit den Busleuten herum, dann war klargestellt, daß zwischen drei und sechs Uhr heute
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