0509 - Der Würger auf dem Schienenstrang
er wieder auf den Beinen stand, traten die Adern an seinem Kopfe deutlich hervor, und er atmete mühsam.
»Das sollte Ihnen eine Lehre sein«, sagte Diana. »Versuchen Sie’s nicht noch einmal. Los jetzt!«
Er setzte sich in Bewegung. Die Schlinge an seinem Hals zwang ihn, den Kopf so weit zurückzulegen, wie er es nur irgend konnte. Dennoch schnitt die geflochtene Lederschlinge immer tiefer in seinen Hals, weil die Kraft in seinem Arm erlahmte. Diana packte seinen Ellbogen und drückte ihn hoch, damit sich die Schlinge ein wenig lockern und ihm das Atmen erleichtern konnte. Sie brauchte nur den Arm loszulassen, und schon war er wieder im Begriff, sich selbst die Luft abzuschneiden.
Die eine Meile bis zum Haus ihrer Eltern wurde der längste Spaziergarjg, den sie je unternommen hatte. Der Mann versuchte noch zweimal, ihr davonzulaufen. Aber Diana brachte ihn jedesmal wieder zur Räson. Als sie dann die Auffahrt zum Hause hinanschritten, rief sie laut:
»Hallo, Daddy! Daddy! He, Daddy!« Gleich darauf erschien ihr Vater im Schlafanzug und Morgenrock auf der Veranda. Diana winkte, und plötzlich sprang ihr Vater mit einem Satz über das Geländer der Veranda hinweg und lief ihr entgegen.
»Was — was soll denn das bedeuten?« keuchte er atemlos.
»Er wollte mich überfallen«, sagte Diana.
»Dich? Wo? Wann denn?«
»Unten am Stockwater Creek, bei den Birken.«
»Am Bach? Bei den Birken? Du lieber Gott — dahinter geht die Eisenbahnlinie entlang! Diana!«
Ihr Vater war plötzlich kreidebleich geworden. Diana sah ihn groß an.
»Der Eisenbahnmörder!« sagte ihr Vater tonlos. »Das muß er sein! Großer Gott — du hast den Eisenbahnmörder --lauf ’rein, schnell, ruf den Sheriff an, er soll sofort kommen. Sofort, hörst du? Sag ihm, wir hätten den Eisenbahnmörder…«
***
Es war ein verlassenes Nest im Mittleren Westen, wo der schier endlose Güterzug mit dem ich aus dem Norden herabgekommen war, plötzlich anhielt und durch nichts erkennen ließ, daß er die Absicht habe, die Reise in absehbarer Zeit fortzusetzen. Ich lag in einem Viehwagen zwischen zwei braunen Reitpferden, die sich an mich gewöhnt hatten. Im Dach gab es eine Luke, die einen Spalt breit offenstand, als ich über das Dach gekrochen war. Es hatte keine Mühe gemacht, die Luke ganz aufzubekommen. Jetzt machte es mir keine Mühe, durch dieselbe Luke wieder hinauszukommen. Vorsichtig spähte ich vom Dach herab.
Weit vorn an der Lokomotive standen ein paar Männer und wedelten mit Papieren. Ich kroch zur anderen Seite, sah niemand und sprang hinab. Alle Tramps, die ich in den letzten fünf Tagen getroffen hatte, waren unterwegs nach Süden, und ich mußte ihnen recht geben. Hier unten schien die Sonne und es herrschten angenehme warme Temperaturen, während bei uns droben die ersten Herbststürme übers Land fegten und in manchen Nächten sogar schon der erste Frost gekommen war. Nichts für einen Tramp, der etwas auf sich und ein angenehmes Leben hält.
Ich setzte mich neben dem Schuppen, der am Bahnsteig stand, in die Sonne und fragte mich, wie spät es sein mochte. Mittlerer Vormittag, schätzte ich. Vielleicht um zehn rum. Ich sah mich noch einmal gründlich um, aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. In einem Korral standen ein paar hundert Rinder herum, aber sie waren die einzigen Lebewesen, die ich ausmachte.
Ich hakte meinen linken Absatz los und zog die eng zusammengedrückten Geldscheine heraus, die dort untergebracht waren. Tramp hin, Tramp her — ein G-man kann nicht stehlen gehen, aber ich schätzte, daß es nicht mehr als höchstens zwei Dollar kosten konnte, eine Verbindung nach New York zu bekommen, und so nahm ich sicherheitshalber einen Fünfer, steckte das andere Geld wieder in den hohlen Absatz und schloß das Versteck.
Friedlich pfeifend rollte ich meinen Mantel zusammen, den ich hier in der Wärme nicht anzuziehen brauchte, klemmte mir das Bündel unter den Arm und tippelte die Fahrspur entlang, die von dem abseits gelegenen Bahnhofsgelände zu dem Städtchen führte, dessen Dächer verschlafen vor mir lagen.
Ungefähr hundert Yard vor dem ersten Gebäude lag ein Grenzstein oder etwas in der Art neben der Fahrspur. Ich ging einmal um ihn herum und fand an seiner Rückseite tatsächlich ein Zeichen. Es hieß schlicht und einfach in der Landstreichersprache »Gute Stadt«. Na, dann konnte ich ja unbesorgt hineinmarschieren.
Offenbar gab es nur eine Straße, wo man tatsächlich etwas erledigen konnte. In
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