051 - Duell mit den Ratten
Aber das verbot ihm sein Stolz, und außerdem liebte er seinen Beruf über alles. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte er schon längst gekündigt. Vielleicht würde er es auch noch tun. Er war sicher, daß ihn die Kinder noch schafften, wenn auch noch eine kleine Hoffnung bestand, daß er als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorging.
Ja, es war eine Auseinandersetzung, ein Kampf zwischen dem Lehrer und seinen Schülern um die Vormachtstellung. Es mußte ihm nur gelingen, den Widerstand ihres Anführers zu brechen, dann würde er auch die anderen für sich gewinnen können.
Aber Prosper war hart wie Stahl, kalt wie ein Fisch, böse wie der Teufel. Er war ein Ungeheuer. Nein, so durfte er nicht denken! Wenn er in solchen Bahnen dachte, dann konnte er seinen Beruf gleich aufgeben. Prosper war zugegebenermaßen ein schwieriges Kind, das ihn schon vor so manche unlösbare Aufgabe gestellt hatte, aber er war im Grunde nicht schlechter als alle anderen Kinder auch.
Obwohl sich Mike das einredete, sah er der Unterrichtsstunde mit Bangen entgegen. Was würden diese Teufel heute wieder gegen ihn aushecken?
Als die ferne Kirchenuhr elf mal schlug, betrat er das Klassenzimmer. Die Kinder sprangen wie von der Tarantel gestochen von ihren Plätzen auf und standen stramm. Mike nahm es überrascht zur Kenntnis. Es hatte Tage gegeben, da hatten sie ihm einen viel unangenehmeren Empfang bereitet. Er erinnerte sich mit Schaudern daran, wie er eines Morgens die Schublade seines Schreibtisches geöffnet und darin eine säuberlich sezierte Ratte vorgefunden hatte. Alle Organe waren peinlichst aufgespießt gewesen, und daneben hatte ein Zettel gelegen, mit dem Text: Unserem geliebten Lehrer für einen anschaulichen Unterricht.
Er hatte Jimmys Handschrift erkannt, doch der Junge hatte unter Tränen geleugnet, ihm diesen Streich gespielt zu haben. Mike konnte auch nicht glauben, daß James Caine es gewesen war, obwohl die Indizien gegen ihn sprachen. Denn Jimmy war von allen Zöglingen noch der bravste, eigentlich ein ausgesprochener Musterschüler. Er war viel mehr davon überzeugt, daß Prosper oder einer seiner Freunde Jimmys Handschrift nachgeahmt hatten.
Doch als Mike der Direktorin seine Vermutung unterbreitet hatte, behauptete sie, daß ein zwölfjähriger Junge wohl kaum in der Lage sei, die Handschrift eines anderen so exakt nachzuahmen. Das hatte etwas für sich. Und so mußte Mike seinen Lieblingsschüler bestrafen, obwohl er von seiner Unschuld überzeugt war.
Aber das war noch einer der harmloseren Vorfälle gewesen. Einmal hatte er geglaubt, von der Schwärze der Tafel verschluckt zu werden, und als Prosper ihn ein anderes Mal in eine Diskussion verwickelte, brachte dieser ihn mit seinen Argumenten fast um den Verstand. Mike wischte all diese Gedanken weg, ließ die Zöglinge sich setzen und begann mit dem Unterricht. Seine Blicke schweiften durch das Klassenzimmer, nach irgendwelchen Veränderungen suchend, aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Als er einmal Prospers Blick begegnete, leuchtete ihm aus den Augen des Jungen die reinste Unschuld entgegen.
War das friedliche Verhalten seiner Schüler ein gutes Omen, oder nur die Ruhe vor dem Sturm? Hatten sie sich heute etwas ganz besonders Teuflisches einfallen lassen? Mike wollte dem Frieden nicht so recht trauen, obwohl er innig hoffte, daß seine Schüler endlich das Kriegsbeil begraben hatten und zur Vernunft kamen. Vielleicht sollte er sie belohnen, um ihnen zu zeigen, daß er den Unterricht auch angenehmer gestalten konnte, wenn sie selbst zur Zusammenarbeit bereit waren. »Wir haben das letzte Mal über das Verhalten der Raubtiere auf freier Wildbahn gesprochen. Vielleicht wäre es ganz interessant, nun einen Vergleich mit den Raubtieren anzustellen, die in Gefangenschaft aufgewachsen sind. Besser als viele Worte wäre es natürlich, Studien am lebenden Objekt zu betreiben. Leider ist uns ein Besuch in einem Zoo nicht möglich, aber zufällig habe ich im Lehrmittelzimmer einen Film entdeckt, der von Raubtieren im Zoo handelt und euch sicher entschädigen wird.«
Die neun Zöglinge brachen in einen solchen Begeisterungstaumel aus, daß Mike der Verdacht kam, daß sie ihn auf den Arm nehmen wollten. Aber dennoch war er gerührt. Als er Freiwillige aufforderte, ihm beim Transport des Projektors und der Leinwand zu helfen, war Prosper der erste, der sich meldete.
Eine Viertelstunde später war die Leinwand aufgebaut, der Film in den Projektor
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