0510 - Der Leichenzug
schob Suko auch ein Trinkglas rüber, doch der Chinese legte seine Hand über die Öffnung. »Keinen, bitte.«
»Was denn?«
»Ich trinke Wasser.«
»Klares?«
»Ja, Kraneberger.«
Marek stand auf. »Komisches Wort, habe ich noch nie gehört.«
Suko lachte. »Ist auch ein Fachausdruck.«
Das Wasser war sehr klar, und es schmeckte auch gut. Suko trank das erste Glas leer, beim zweiten begann er zu essen. Speck und Brot verschwanden abwechselnd in seinem Mund.
Marek erzählte. Er begann mit der Fahrt des Leichenzugs, den er schon einige Male beobachtet hatte. Er fuhr nur bei Vollmond und verschwand dann irgendwo.
»Woher ist er denn gekommen?« fragte Suko. »So ein Zug muß ein Start und ein Ziel haben.«
»Aus dem Nichts!«
Der Inspektor schaute Marek über die stumpfe Seite seines Messers hinweg an. »Das ist zwar eine Antwort, aber keine, mit der ich etwas anfangen kann, wenn du verstehst.«
»Das glaube ich dir sogar. Was soll ich aber sagen? Es ist nun mal so.«
»Hast du denn nicht nachgeforscht? Bist du die Strecke nicht zurückgegangen?«
»Noch nicht.«
»Das werden wir machen?«
»Ja.« Marek schnitt ein Stück Speck ab. »Ich habe natürlich nachgefragt und nachgeforscht. Diese Bahnlinie hat vor fünfzig Jahren mal bestanden. Auch noch während des Krieges. Später ist sie dann geschlossen worden. Es ist auch nicht so wie damals mit dem Vampir-Expreß, als wir Bogdanowich jagten. Dieser Zug besteht nur aus einer Lok und einem Wagen, aus dessen Fenstern die Särge schauten.«
Suko kaute und runzelte die Stirn. »Mir ist das alles viel zu undurchsichtig.«
»Mir ebenfalls.«
»Gut, da ich hier bin, müssen wir etwas unternehmen. Wie ich dich kenne, hast du einen Plan.«
»Ja, John Sinclair befreien.«
Suko winkte ab. »Das versteht sich von selbst. Wo endet die Linie?«
»Irgendwo in den Bergen. An einer unwegsamen Stelle. Wir kommen mit dem Wagen nicht bis dorthin. Das weiß ich inzwischen.«
»Dann gehen wir eben zu Fuß.«
»Bin ich für, Suko.«
»Und der Zug fährt jeden Abend?« Suko aß ein Stück Speck.
»Nur bei Vollmond.«
»Den haben wir ja. Ich frage mich nur, welch ein Motiv es dafür gibt. Was befindet sich in den Särgen?«
»Staub!«
»Gefährlicher Staub«, präzisierte der Inspektor. »Das hast du mir ja berichtet. Staub, der plötzlich zu einem Vampirgeist wird und einen normalen Schädel besitzt. Oder einen fast normalen. Ich frage mich, was da vorgegangen sein muß.«
»Ich habe keine Ahnung.«
Suko schaute nachdenklich auf die Tischplatte. »Alles hat seinen Grund, hat ein Motiv. Auch hier muß es irgend etwas geben, das vielleicht in der Vergangenheit liegt. Hast du in diese Richtung schon einmal nachgeforscht?«
Marek winkte ab. »Ich habe alles versucht, im Dorf nachgefragt, mich mit älteren Menschen in Verbindung gesetzt, aber es wußte keiner Bescheid.«
»Oder wollte man dir nichts sagen?«
»Das glaube ich nicht, Suko. Die Leute hier haben Vertrauen zu mir. Nein, in Petrila läuft alles normal. Nur eben dieser verdammte Zug mit seinen Särgen ist es nicht.«
Suko tippte mit einem Finger an den rechten Rand der Tischplatte und mit einem zweiten an den linken. »Irgendwo startet er, und irgendwo fährt er hin. Er muß einfach ein Ziel haben, daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Ja, ja, schon, aber…«
»Wo fangen wir an? Am Start oder am Ziel?«
»Es gibt keinen Start, Suko.«
»Tatsächlich nicht?«
»Nein, wenn du an einen Bahnhof oder ähnliches denkst, das ist nicht vorhanden. Die Schienen enden plötzlich im Gelände.«
»Und wie erscheint der Zug?«
»Der kann aus den Wolken fallen, der kann sich materialisieren, ich habe keine Ahnung. Zudem gehört er zu den alten Bahnen, die längst ausgemustert worden sind.«
»Ja, ja«, sagte Suko und strich über sein Gesicht. Er war sich selbst noch nicht klar darüber, wohin sie der Weg nun führen sollte. Start oder Ziel?
Wichtig war es, John Sinclair zu finden. Da mußten sie zum Ziel fahren. Suko interessierte auch die Stelle, wo der Zug anfuhr. Noch war es nicht finster. Sie hatten eine gewisse Zeit zur Verfügung. Die Nacht würde erst später anbrechen.
»Bist du bereit, Marek?«
»Immer.«
Suko stand auf. »Dann fahren wir.«
Marek fragte erst nicht, wohin sie der Weg führte. Er überließ Suko gern die Führung.
»Wie bist du bewaffnet?«
Der Pfähler grinste, als er die Haustür zuzog. »Mit dem Pfahl und einer alten Armeepistole.«
»Schießt sie noch?«
»Und wie. Das
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