053 - Schrei, wenn dich der Hexentöter würgt
weiter. Wenn er also tatsächlich Merkmale seiner
Eltern trug, dann mußten auch noch tiefer und verschüttet in seinem Bewußtsein
und seinen Anlagen Anzeichen dafür vorhanden sein, was die Eltern seiner Eltern
an Erfahrungen und Wissen gesammelt hatten. Und auch Spuren jener Generation
mußten noch vorhanden sein, die davor lebte. Ein Mensch war nur ein Teilstück
eines riesigen Menschenmosaiks, ein Produkt aus vielen Generationen.
Als dieser Gedanke sich erst mal bei ihm festgesetzt
hatte, wurde er schließlich zur fixen Idee. Michael Thielen war nicht mehr
davon abzubringen, herauszufinden, woher er wirklich stammte, wer jene Vorfahren
gewesen waren, die vor den Eltern seiner Eltern und noch davor gelebt hatten.
Ein verständlicher Wunsch, der gewissermaßen auch in jedem anderen Menschen
schon aufgetaucht war und ihn beschäftigt hatte, ohne deswegen als abnormal zu gelten.
Aber bei Thielen war er zur Besessenheit geworden. Er
suchte in Stammbüchern und alten Taufeintragungen nach seinen Vorfahren. Er
konnte seinen Stammbaum bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Aber die
Familie Thielen war noch älter. Das bewies allein schon das alte, aus dem 15.
Jahrhundert stammende Bauernhaus, das immer mehr verfiel und um das sich
niemand kümmerte. Es war von Efeu und Moos überwachsen; Wind und Wetter hatten
das baufällige Dach zerstört, so daß es in die verdreckten, unmöblierten Innenräume
hereinregnete und -schneite. Die Ruine war zu einem Paradies für die Ratten und
für anderes Ungeziefer geworden, das sich gegenseitig auffraß. Nur in dem
finsteren Kellergewölbe gab es ein Geheimnis, das Thielen vertraut war... Es
waren zwei kahle Räume, die in der letzten Zeit regelmäßig von einem denkenden menschlichen
Wesen betreten wurden.
Dieses Haus hatte ihn schon immer angezogen. Hier,
unter dem Boden des Kellers und in einigen geheimen Wandnischen verborgen,
hatte er das Geheimnis seiner Familie gefunden. Im Alter von zweiundzwanzig
Jahren gelang ihm der erste große Durchbruch. Das lag jetzt genau zwei Jahre
zurück. Die Droge versetzte ihn in einen rauschartigen Zustand, wie man das von
Haschisch und LSD her auch kannte. Und doch war es anders. Thielen
beabsichtigte nicht, sein Gehirn mit Traum- und Gaukelbildern zu füllen. Er
wollte das Innerste bloßlegen, die Erkenntnisse und Erfahrungen befreien, die
die Menschen, von denen er abstammte, Generationen vor ihm gesammelt hatten.
Was geschah, war so phantastisch und ungeheuerlich,
daß er anfing, an seinem Verstand zu zweifeln, als er wieder bei vollem
Bewußtsein war und feststellte, daß er auf der Couch seines geheimen
Versuchslabors lag und offensichtlich nach der Droge eingeschlafen war. Er
hatte nach der Injektion geträumt. Dabei hatte er chemische Reaktionen in
seinem Hirn freisetzen wollen. Statt dessen war er
eingeschlafen und hatte einen seltsamen Traum gehabt. Er erinnerte sich noch
genau. Wie üblich bei Träumen mit einem merkwürdigen, ins Phantastische
gehenden Inhalt waren Zeit und Raum völlig aufgelöst. Er, Michael Thielen, sah
sich als Bewohner einer Zeit, die man als das finsterste Mittelalter bezeichnete,
in der sogenannte Hexenjäger durch die Lande zogen und viele unschuldige Menschen
zum Tode verurteilten oder nach langen und qualvollen Folterungen feststellten,
daß diese oder jene Person tatsächlich eine Hexe war und hingerichtet werden
mußte. Einige aufrichtige Hexenjäger erfüllten die Aufgabe mit großer
Aufmerksamkeit und nach bestem Wissen und Gewissen. Andere aber, Scharlatane
und Glücksritter, nutzten das Gebot der Stunde, nutzten die allgemeine Scheu
und die Stimmung, um ihr Schäfchen ins trockene zu bringen. Sie hatten erkannt,
daß der Beruf des Hexenjägers Ansehen und Einkünfte, große Einkünfte, zur Folge
hatte. Nicht selten fiel das gesamte Hab und Gut einer überführten Hexe in die
Hände des Hexenjägers.
Männer dieser finsteren Zeit ritten von Dorf zu Dorf,
gingen Anschuldigungen nach, überprüften Verhöre und Protokolle und kamen oft
auf die Idee, Unschuldige mit einzubeziehen, weil ihnen das gerade ins Konzept
paßte oder weil ein gefährlicher Mitwisser oder Konkurrent ausgeschaltet werden
mußte.
Die grausamen Folterungen, die man durchführte, hatten
zur Folge, daß manche der Hexerei Angeklagten in der Hoffnung, den
fürchterlichen Qualen endlich zu entkommen, einfach irgendwelche absurden
Geständnisse ablegten oder die Namen verhaßter Mitbürger nannten, um von sich
abzulenken.
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