0556 - Milenas Opferstätte
zehn Meilen konnte es bis Talley nicht mehr sein. Ich nahm mir vor, wenn ich den Ort erreicht hatte, den Wagen irgendwo abzustellen und ein Nickerchen zu machen.
Der Himmel zeigte nicht mehr die Klarheit des Tages. Lange Wolkenstreifen wehten über ihn hinweg. Sie sahen aus wie durchsichtige Decken, hinter denen der volle Mond ungewöhnlich verschwommen aussah.
Das Spiel der dünnen Wolken sah gewaltig aus. Durch das Mondlicht bekamen sie einen gelben Schleier, und weiter im Norden schienen sie sich zusammenzuballen.
Die Straße führte in die Einsamkeit. Glücklicherweise war sie nicht zu kurvig. Ich konnte hin und wieder aufdrehen, blieb jedoch meist im Tempolimit.
Mit Gegenverkehr brauchte ich nicht zu rechnen, und ich rechnete auch nicht damit, in dieser nächtlichen Einsamkeit einen Menschen zu treffen. Da allerdings erlag ich einem Irrtum.
Plötzlich sah ich die Gestalt.
Sie stand mitten auf der Straße, war bleich wie der Tod, winkte mit den Armen und schien in ihrem langen Mantel gerade von einem fremden Stern gekommen zu sein.
Natürlich dachte ich an eine Falle. Oft genug haben Anhalter Autofahrer auf diese Art und Weise zum Stoppen gebracht, damit versteckte Komplizen sie überfallen konnten.
Ausweichen konnte ich nicht, überfahren wollte ich den Mann ebenfalls nicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als anzuhalten.
Dicht vor dem Unbekannten im langen Mantel brachte ich den flachen Renner zum Stillstand.
Ich machte nicht den Fehler und stieg aus, blieb erst einmal sitzen, schaute in Innen- und Rückspiegel, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. In der grauen Dunkelheit bewegten sich nur mehr die Arme der Sträucher im leichten Wind.
Der Mann im blendenden Licht der Scheinwerfer atmete tief aus.
Vor seinen Lippen sah ich die weißen, dicken Atemwolken. Er senkte den Kopf, drehte ihn, weil er nicht mehr geblendet werden wollte.
Dann kam er auf die rechte Tür zu. Er blieb davor stehen und bückte sich. Ich sah sein Gesicht hinter der Scheibe.
Ein graudunkler Stoppelbart bedeckte die Wangen. Dazwischen sah ich den Mund, darüber die Knollennase, die dunklen Augen mit den dichten grauen Brauen, auch die breite Stirn und das graue, nach hinten wehende Haar.
Dieser Mann war ein Mensch, dem ich irgendwie vertraute. Es war ein Gefühl, mehr nicht.
Ich drehte mich um.
Der ältere Mann lächelte. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Mister, wirklich.«
»Haben Sie Probleme?«
»Sicher.«
»Womit?«
»Es geht um meinen Wagen. Er liegt einige hundert Yards von hier im Graben. Achsenbruch.«
Ich überlegte. »Bis Talley ist es nicht weit – oder?«
»Nein, Mister.«
»Weshalb sind Sie nicht in den Ort gegangen?«
Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Möchten Sie nach Talley fahren?« fragte er leise.
»Das hatte ich vor.«
»Ich würde es Ihnen nicht raten, Mister. Um Himmels willen, fahren Sie nicht dorthin.«
»Wehalb nicht?«
»Sie wissen nicht Bescheid?«
»Nein.«
Er richtete sich auf und schaute nach Norden. Dann glitt sein Blick in die Höhe, als wolle er prüfen, ob der Mond noch immer am Himmel stand. »Fahren Sie nicht nach Talley. Nehmen Sie mich mit und kommen Sie zu uns.«
Ich mußte lachen. »Das ist eine seltsame Einladung, Mister…«
»Ich heiße Grealy.«
»Mein Name ist John Sinclair.«
»Also gut, Mr. Sinclair. Sehen Sie mal nach vorn und auch in die Höhe. Dort steht der Mond am Himmel.«
»Das ist gut zu erkennen.«
»Wissen Sie auch, was das bedeutet, wenn der volle Mond scheint?«
»Dann haben wir Vollmond.«
»Witzig, aber darüber kann ich nicht lachen. Es ist ein Vampirwetter, Mr. Sinclair.«
»Das habe ich mal gelesen.«
»Wie schön für Sie. Aber hier können Sie es erleben. Es gibt hier Vampire.«
»In Talley?«
»Ja und nein. Der Ort ist verlassen. Die Männer sind weg. Sie werden dort nur noch Frauen finden. Aber was erzähle ich Ihnen, Sie glauben mir doch nicht. Fahren Sie, Mr. Sinclair, und fahren Sie in Ihr Unglück hinein. Es ist Ihr Leben, das Sie wegwerfen.« Er wollte sich abwenden, mein Ruf hielt ihn auf.
»Kommen Sie schon Mr. Grealy.«
»Danke.« Er ging um den Wagen herum. Ich hatte ihm schon die Tür geöffnet. Als er einstieg, drückte er seinen langen Mantel zurück. An der rechten Seite trug er eine Waffe. Sie war sehr groß, wirkte kompakt, und ich wunderte mich lautstark.
»Laufen die Männer hier mehr mit abgesägten Schrotflinten herum?«
Er klopfte auf den Schaft. »Dieser doppelläufige Bruder kann
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