056 - Der Werwolf
die Blätter auf den dichten bunten Teppich, der den verwilderten Rasen bedeckte. Menschliche Geräusche waren nicht dabei.
Vielfältige Gerüche, weitaus stärker als die Töne und Geräusche, belästigten die Wolfsnase.
Es roch nach abgestandenem, fauligen Wasser und dem vermoderten Fußboden. Aus dem Mauerwerk drang Fäulnisgeruch und mischte sich mit dem Gestank nach verrotteten Möbeln und uraltem Hausrat, den allerlei kleines Getier als Versteck benutzte. Aber der verhaßte Menschengeruch fehlte, auch der der widerlichen Polizeiköter!
Mit einem Satz sprang der Wolf hinunter, mitten in die hohen Gräser neben der Hauswand. Wieder ein stechender Schmerz entlang des Rückens.
Unhörbar schob sich das schlanke, schwarze Tier durch den verkrauteten Garten. Der Körper zitterte vor Spannung und Gier, das geplante Strafgericht abzuhalten.
Die Ruhe ringsum trog. Vermutlich waren an vielen Orten Polizisten und Hunde versteckt. Es durfte nicht wieder dazu kommen, daß ihn die Köter durch ihr Kläffen verrieten.
Sorgfältig umging der Wolf alle Stellen, die im Mondlicht oder im Schein einer Straßenlampe lagen. Er erreichte ein altes Tor, das fast keine senkrechten Zierhölzer hatte. Vorsichtig streckte er den Kopf hindurch und sicherte nach allen Seiten.
Jetzt weiß ich, wo ich bin!
Direkt vor ihm, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hinter der typischen Hecke, wohnte dieser schurkische Direktor Delius. Der Wolf lachte heiser. Seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Er nahm Witterung auf, spürte und kostete die Gerüche, die auf ihn einströmten.
Keine heißen Motoren.
Auch keine Hunde.
Aber einige Menschen, die sich in weiterer Umgebung versteckten. Sie saßen in dunklen Autos, die seit Stunden nicht gefahren worden waren. Hier jedoch wartete niemand.
Leise sprang der Wolf durch die Lücke im Tor, lief auf die geparkten Autos zu und verbarg sich zwischen zwei Stoßstangen. Langsam reckte er sich nach vorn, dann sprang er mit drei gewaltigen Sätzen über die halbdunkle Straße und verschwand im dichten Geflecht der gegenüberliegenden Hecke. Die stacheligen Zweige schrammten durch sein Fell. Ein Ast streifte die Wunde. Der Schmerz flammte wieder auf und erinnerte ihn an die rätselhafte Waffe dieses verdammten Arztes.
Er wird der letzte sein. Zu erst ist der Direktor dran!
Das Haus am anderen Ende des schrägen Hanges war dunkel. In keinem der vielen Zimmer brannte auch nur das kleinste Licht. Aber es roch bewohnt. Von Kindern und Menschen. In großem Bogen lief der Wolf entlang der Hecke, blieb im Schatten der überhängenden Zweige und kam erst hinter der Hollywoodschaukel hervor. Die blecherne Tischplatte schützte ihn vor den Blicken seiner Feinde. Mordgier erfüllte ihn, als er einen Satz machte und an der Hauswand unterhalb der Fenster entlang rannte. Die Rollos waren ausnahmslos heruntergelassen. Hier konnte er also nicht eindringen.
Die nächste Wand!
Der Wolf befand sich jetzt zwischen glatten Flächen. Das Haus winkelte ab, die Wand der Doppelgarage schloß sich an, dazu kam eine halbhohe Mauer, auf der vielerlei Gewächse wucherten. Er zögerte. Auch hier waren die Fenster geschlossen und durch schmiedeeiserne Gitter gesichert. Langsam lief er weiter.
Plötzlich stutzte er.
Draußen fuhr langsam ein Wagen vorbei. Wahrscheinlich ein Polizeifahrzeug. Er durfte kein Risiko eingehen.
Langsam und konzentriert schob sich der schwarze Wolf vorwärts. Er durchquerte den Schatten und kam auf den kleinen Vorplatz an der Seite des Hauses. Dort wartete er. Alle Sinne waren aufs höchste angespannt – er mißtraute der Ruhe.
Das Fahrzeug wurde langsamer und bremste. Dann krachte das Getriebe auf. Als der Wagen zurücksetzte, erfaßten seine Scheinwerfer den Wolf, aber auch einen kleinen Vorsprung des Hauses. Der Killerwolf entdeckte ein Fenster, weit offen und groß genug, daß er hindurchspringen konnte. Die’ blendende Helligkeit der Scheinwerfer wanderte weiter. Der Wolf wußte nicht, ob die Polizisten ihn gesehen hatten, aber er mußte auf alles gefaßt sein. Er hatte es plötzlich noch eiliger, seinen Plan zu verwirklichen.
Zwei kurze Sprünge brachten den schwarzen Killer auf das Mäuerchen hinauf. Wieder ein Anlauf, ein Anspannen der Muskeln, und in einem flachen Bogen sprang der Wolf über die kurze Distanz hinweg genau in das schwarze Viereck des geöffneten Fensters hinein. Er hatte nicht eine Sekunde an die Überlegung verschwendet, was ihn dahinter erwartete.
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