056 - Der Werwolf
Weich landete er auf einem dicken Teppich. Er stemmte sich hoch und drehte sich um. Das schwache Licht genügte, um ihm in Umrissen seine Umgebung zu zeigen. Er befand sich in einem kleinen Raum, vermutlich einem Flur oder Vorzimmer. Er bemerkte vier Türen. Eine davon roch anders – von dorther kamen Gerüche von benutzter Wäsche und den Ausdünstungen ruhender Menschen.
Der Wolf stellte sich auf die Hinterbeine und legte eine Pfote auf die Klinke. Jagdfieber hatte ihn gepackt. Er suchte die letzte Auseinandersetzung. Seine Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen. Das dichte Fell sträubte sich, und durch seinen schlanken Körper ging ein gespanntes Zittern. Sein furchterregendes Gebiß schimmerte auf, als die Pfote die Klinke herunterdrückte. Mit einem gedämpften Klicken öffnete sich die Tür.
In diesem Augenblick schaltete sich die automatische Warnanlage des Hauses ein.
Zuerst gingen sämtliche Lampen an, vom Obergeschoß bis zum Keller.
Dann heulte eine Sirene los.
Im zuständigen Polizeirevier begann ein Licht aufzublinken.
Der Wolf erschrak. Er war in eine vorbereitete Falle gefangen. Wild sprang er zurück, drehte sich herum und suchte eine Fluchtmöglichkeit. Mit den Vorderpfoten erwischte er das Fensterbrett und rutschte ab. Er überschlug sich, fiel auf den Rücken und kam wieder auf die Beine. Aus seiner Kehle kam ein dumpfes, grimmiges Grollen.
Er saß in der Falle! Sie hatten ihn hereingelegt!
Drei starke Glühlampen beleuchteten den nächsten Versuch des Wolfes, seinem Gefängnis zu entkommen. Noch immer heulte die Sirene.
Im Haus wurden aufgeregte Stimmen laut. Vor dem Gebäude bremsten Wagen, klappten Autotüren, hörte der Wolf Schritte und die aufgeregten Stimmen von Männern, die aus dem Schlaf gerissen worden waren.
Der Wolf sprang ein zweites Mal senkrecht nach oben. Er fiel halb aus dem offenen Fenster. Seine Hinterläufe zuckten und rissen tiefe Rillen in die Wandbespannung. Dann schaffte er es und kippte nach vorn. Mit letzter Anspannung gelang es ihm, den Sturz abzufangen.
Ich muß mich zurückziehen!
Der Wolf kam wieder auf die Füße und rannte im Zickzack zwischen den Mauern und der Gartenbegrenzung entlang, über den Rasen und am Schwimmbecken vorbei.
Ein Schuß krachte von rechts. Die Kugel flog dicht an ihm vorbei und schlug durch die Zweige. Mindestens zehn Autoscheinwerfer waren aufgeflammt und tauchten den Platz vor dem Haus in grelles Licht. Wütendes Kläffen bewies, daß sie auch die Hunde losließen.
Der Wolf wurde schneller, sein Körper lag schräg, als seine Pfoten wie rasend über den Boden tappten. Er schoß in ein Gebüsch hinein, stoppte jedoch mitten im Lauf. Genau vor ihm, jenseits der Öffnung im Zaun, fuhr langsam ein Wagen vorbei. Auf dem Rücksitz kauerten zwei Schäferhunde.
Der Wolf wartete, bis der Weg frei war, dann holte er tief Atem und sprang über die Straße.
Wieder ein Schuß.
Gleichzeitig mit dem Krachen bemerkte der Wolf das Mündungsfeuer. Das Geschoß bohrte sich zwischen seinen Läufen in den Asphalt. Ein weiter Satz brachte ihn durch den brüchigen Zaun, dann verschwand er im Gestrüpp des alten Grundstücks.
Der schwarze Killer war ratlos.
Er fühlte, wie sich der Ring immer dichter um ihn schloß. Überall wurden jetzt Automotoren angelassen, ertönten aus den Lautsprechern Stimmen. Man hatte ihn gesehen, und man umstellte das Grundstück.
Langsam pirschte er durch das hohe Gras. Es war weit nach Mitternacht. Hinter ihm war die Nacht erhellt von vielen Scheinwerfern und der Innen- und Außenbeleuchtung des Hauses, in dem Direktor Delius wohnte. Irgendwo in der Ferne heulten Sirenen auf.
Mochten sie ihn jagen und hetzen, er – Christian Franke – würde ihnen entkommen!
Der Wolf verbarg sich neben dem verfallenen Haus im Gebüsch. Er blieb ruhig liegen und überlegte, ob die Flucht durch den Bach die letzte Möglichkeit für ihn war.
Während er gelassen abwartete, umzingelten mehr und mehr Polizisten das Grundstück. Das Gelände war jetzt lückenlos angestrahlt. Sämtliche Jäger und Scharfschützen gingen in Stellung.
Diese Narren, dachte der Wolf verächtlich. Selbst wenn sie auf mich schießen, sie können mich nicht verletzen!
Das laute Aufheulen einer Sirene riß Gerd Becker aus dem Sessel. Die Bestie muß wieder zugeschlagen haben, ging es ihm durch den Kopf. Sicherlich hatte der Wolf versucht, Direktor Delius anzugreifen, denn der Warnruf war das Zeichen dafür, daß die Alarmanlage des Bankiers
Weitere Kostenlose Bücher