0568 - Die Braut des Wahnsinns
damit rechnete, daß sie von diesem Tier angesprungen wurde.
Aber der Nager drehte sich nur und schritt auf die kleine Schale zu, um mit der Schnauze über den Rand zu gleiten, die Zunge vorzustrecken und den Inhalt zu kosten.
Sie trank, leckte und schmatzte dabei. Da sie sich beinahe in Wendys Augenhöhe befand, konnte die junge Eisläuferin sie sehr gut beobachten. Das Tier probierte nicht sehr viel. Nach einigen Schlürfversuchen zog es sich zurück und leckte sich letzte Tropfen von den Barthaaren. Zufrieden ließ sie sich wieder auf ihrem Platz nieder.
»Es hat dir geschmeckt, nicht wahr?« flüsterte Wendy. »Ja, das habe ich genau gesehen. Es muß dir geschmeckt haben.« Sie streichelte über den Rücken der Ratte und spürte, daß sich das Fell und der gesamte Körper erwärmt hatten.
Lag es an der Flüssigkeit, die das Tier getrunken hatte? Wendy machte sich darüber keine Gedanken mehr, denn sie hatte ein anderes Geräusch vernommen. Zwar noch weit entfernt, aber dennoch zu verstehen.
Ein unheimlich klingender Singsang drang durch das dicke Mauerwerk an ihre Ohren. Irgendwo hinter den sie umgebenden Steinen mußten die Menschen lauern.
Nur Sekunden verstrichen, als sich die Türen in den Nischen zugleich öffneten.
Einen schaurigen Choral singend betraten die Hochzeitsgäste die Kapelle. Sie wußten genau, was sie zu tun hatten und verteilten sich hinter dem Altar. Jeder nahm seinen Platz ein. Der Halbkreis aus Hochzeitsgästen befand sich weit genug vom Zentrum entfernt, um zwischen ihm und dem Altar eine Lücke zu lassen, in die jemand hineintreten konnte.
Wendy beobachtete den Vorgang staunend und mit weit geöffneten Augen. Sie kannte einige der Gäste, deren Gesichter im Schein der Kerzen ungewöhnlich verzerrt wirkten.
Nur vermißte sie zwei Personen.
Gunhilla und ihren Bräutigam.
Die kamen auch. Sie hatten sich eine andere Tür ausgesucht. Die größere, durch die sie aufrecht schreiten konnten. Knarrend wurde sie von außen geöffnet, und als erster betrat Simon Arisis die Kapelle.
Er hatte sich umgezogen.
Stolz sah er aus, als würde der große Operntenor die Bühne betreten. Er ging nicht, er schritt. Bei jeder Bewegung bewegte sich der seidig glänzende Stoff der schwarzen Smokinghose, die an den Seiten mit helleren Streifen abgesetzt war. Zur ebenfalls schwarzen enggeschnittenen Jacke trug er ein rotes Rüschenhemd und eine schwarze Schleife unter dem Kragen. Auf seinen Lackschuhen spiegelte sich der Widerschein des Kerzenlichts ebenso wie in den Augen.
Aus dem Knopfloch schaute die buschige Blüte einer roten Nelke hervor. Das Haar hatte er eingegelt und glatt zurückgestrichen. Bartschatten waren ihm gewachsen und verstärkten auf seinem Gesicht den Eindruck der Düsternis noch.
Er hatte den Kopf stolz erhoben, schien nichts und niemand zu sehen und achtete auch nicht auf seine Braut. Wendy hatte sich ihm jubelnd in die Arme werfen wollen, doch als sie seinen Gesichtsausdruck sah, ließ sie es bleiben.
Simon Arisis war ihr nah und doch gleichzeitig über Lichtjahre hinweg entfernt.
Ihm folgte Gunhilla von Draben. Auch sie hatte sich ein anderes Kleid übergestreift. Ihr Faible für die Farbe Blau verleugnete sie auch jetzt nicht, denn das seidig wirkende Gewand schimmerte in diesem fließenden, hellen Farbton. Wobei die Farbe wieder in unterschiedlichen Stärken den Stoff zeichnete.
An den Schultern war sie blasser. Zu den Füßen hin nahm sie zu, so daß der Saum wirkte, als wäre er in Tinte getaucht worden.
Etwas paßte nicht in die unheimliche Kapelle. Es war die Video-Kamera, die Gunhilla auf der linken Schulter trug und sie mit einer Hand festhielt.
Auch sie gönnte weder der Braut noch den Hochzeitsgästen einen Blick, durchquerte die Kapelle und ging dorthin, wo auch Simon Arisis seinen Platz gefunden hatte.
Er stand hinter dem Felsklotz, schaute über ihn und die Ratten hinweg auf seine Braut und wartete darauf, daß Gunhilla ihren Platz eingenommen hatte.
Sie stand schräg versetzt von ihm. Ein guter Winkel, um die Szenen filmen zu können.
Die Tür, durch die beide gekommen waren, schwang wie von Geisterhand bewegt knarrend zu.
Es wurde still.
Selbst die Hochzeitsgäste wagten kaum, zu atmen. Auch sie trugen keine normale Straßenkleidung. Gewänder umgaben die Körper, zumeist in dunklen Farben gehalten.
Wendy Wilde spürte ihre innere Erregung. Schauer rannen über Gesicht und Rücken. Sie atmete nur durch die Nase. Der Rauch der Kerzen sammelte sich
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