0591 - Engel der Geister
trotzdem unternahm sie nicht den Versuch, ihren Kopf anzuheben und mir entgegenzuschauen. Sie blieb so hocken, hielt den Kopf gesenkt, und eine Hand gegen ihre Stirn gepresst, wobei die Fläche sogar die Augen verdeckte.
Was in ihrer Umgebung geschah, interessierte sie nicht. Sie war allein mit sich und ihrer Trauer. Nicht um einen Fingerbreit veränderte sie ihre Haltung. Als ich vor ihr stehen blieb, nahm sie mich überhaupt nicht zur Kenntnis.
Leise sprach ich sie an. »Wag ist los mit Ihnen? Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau rührte sich nicht. Sie trug ein langes, bis zum Boden reichendes, türkisfarbenes Kleid. Ihr Haar war schwarz, halblang umrahmte es den Kopf. Von ihrem Gesicht konnte ich nicht viel erkennen.
Ich tippte sie an. Erst jetzt schrak sie zusammen. Die Haltung behielt sie bei, aber die Hand rutschte vom Kopf weg. Sie hob den Blick, wir schauten uns an, und ich sah ein blasses Gesicht, an einigen Stellen nur vom Weinen gerötet. Besonders an den Wangen und dicht unter den Augen.
»Wer sind Sie?« flüsterte ich. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sie bewegte ihre schwarzen Augenwimpern, schaute aber an mir vorbei ins Leere. »Wer ich bin?« gab sie leise zurück.
»Ja, das hätte ich gern gewusst.«
»Ich bin Valesca, der Engel der Geister…«
Diese Antwort hatte ich nicht erwartet, und mir rann danach eine Gänsehaut über den Rücken.
Der Engel der Geister!
Meine Güte, gab es so etwas überhaupt? Da sie saß, war sie kleiner als ich. Ich schaute zu ihr hinab. »Was ist ein Engel der Geister?« erkundigte ich mich.
»Ein Wächter.«
»Aha, du bewachst also die Geister?«
»Ja, ich habe die Aufgabe, ihre Seelen zu bewachen, aber das ist schwer geworden, denn ich habe versagt. Es ist jemandem gelungen, die Seelen zu stehlen. Ein Seelendieb ist in diese ruhige Welt des Schweigens eingebrochen.«
»Das weiß ich.«
Sie blickte mich direkt an. Ihr Gesicht war eingeschnitten und hatte etwas Puppenhaftes an sich. »Ich sehe dich zum ersten Mal, aber ich kenne dich.«
»Woher?«
»Weil ich deine Seele kenne. Sie ist anders als die anderen. Du bist nicht irgendwer. Man hat – man hat dir die Seele geraubt. Du bist in die Fänge des Seelendiebs geraten, aber jemand hat dir deine richtige Seele zurückgegeben, stimmt es?«
»Das sehe ich auch so. Nur weiß ich nicht, wer das für mich getan hat. Ich kenne ihn nicht.«
Sie lächelte fein. »Deine Seele war eben etwas Besonderes. Sie passte nicht in diese Welt.«
»Die ich nicht begreifen und fassen kann.«
Valesca schaute auf mein Schwert. »Willst du hier die Gewalt hineinbringen?« erkundigte sie sich.
»Nein, nur wenn es nötig ist und ich mich verteidigen muss. Das kannst du verstehen?«
»Natürlich.«
Die nächste Frage war wichtig. »Wer bist du, Valesca? Der Engel der Geister ist mir zu allgemein. Du musst eine Vergangenheit haben. Wie kommst du hierher?«
Sie hob die Schultern. »Es ist eine lange Geschichte, die ich nicht gern erzähle.«
»Versuche es trotzdem.«
Valesca nickte und wischte über ihre Augen.. »Ich weiß nicht, wie viele Jahre vergangen sind. Hier vergeht die Zeit wie ein Traum, aber ich habe erlebt, dass es das Jenseits gibt. Ich habe in meinem Leben früher an Sitzungen teilgenommen, denn ich war ein Medium. Man hat mich benutzt und ausgenutzt. Man wusste, dass mein Geist auf eine weite Reise gehen konnte, man freute sich darüber und bat, man wolle Berichte über andere Welten haben.«
»Konntest du sie besuchen?«
»Ja, unter Trance. Ich habe viel gesehen«, flüsterte sie. »Sehr viel sogar. Mehr als manche verkraften können, das kannst du mir glauben. Aber ich wusste nicht, dass es jemanden gab, der es schaffte, meinen Geist zu entführen. Plötzlich konnte er nicht mehr in den eigenen Körper zurückkehren. Du siehst mich vor dir, aber ich bin es nicht wirklich. So sehe ich nicht aus.«
»Bist du in die Fänge des Seelendiebs geraten?«
»Ja, in einen teuflischen Kreislauf, der mich nie mehr losließ. Es war schlimm, sehr schlimm. Dieser Seelendieb ließ mich nicht mehr aus seinen Klauen. Er verdammte mich an diesen Platz, ich erhielt diesen Körper und wurde von ihm zu einem Engel der Geister gemacht. Ich muss sie bewachen. Heute, morgen, übermorgen, bis zum Ende der Welt, wie er mir sagte.«
»Danke, Valesca, du hast mir schon viel erzählt. Nur möchte ich gern wissen, wo ich mich befinde.«
»Dies ist die Halle des Schweigens.«
»Das habe ich bemerkt. Wo liegt sie? Wenn uns jemand finden
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