0593 - Das Zeichen
standen und ihr Licht verstreuten, reichte aus, um den Mittelpunkt des Raumes erkennen zu können, der von einem weiß bezogenen Bett eingenommen wurde.
In ihm lag ein Mann.
Da ich noch nahe der Schwelle stehengeblieben war, winkte mir der Rabbi zu.
Ich trat näher an das Bett heran und blieb an dessen linker Seite stehen, der Rabbi stand mir gegenüber.
Mein Blick fiel in das Gesicht eines Mannes, der sich ungefähr in meinem Alter befinden mußte. Es sah sehr bleich aus, die Nase stach spitz hervor. Auf dem Kopf wuchs das dunkle Haar in schwarzen Locken. Die Lippen konnte ich kaum erkennen, das Kinn bildete eine Spitze. Die Augen waren geschlossen, und die schlanken Hände lagen übereinander auf der Brust des Mannes.
So sah ein Kranker aus, aber auch ein Toter.
Hatte mich Jehuda etwa zu einem Toten geführt? Ich schaute ihn an. Er schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: »Keine Sorge, Mr. Sinclair, er ist nicht mehr tot.«
»Nicht mehr?«
»Ja.«
»War er es denn?«
Unsere Blicke trafen sich über dem Bett. Ich sah Trauer in seinen Augen. Der Kerzenschein umflackerte ihn, so daß Jehuda aussah, als wäre er einem Mysterium entsprungen.
»Ja, er war tot«, gab er zu.
»Woher wissen Sie das?«
»Von Ihnen.«
Ich blickte ihn dermaßen erstaunt an, daß er sich trotz der ernsten Lage ein Lächeln abrang. »Sie, Mr. Sinclair, haben mir berichtet, daß Ihnen unterwegs ein Geist begegnet sei. Als ich die Uhrzeit verglich, kam ich zu dem Ergebnis, daß es die Seele des jungen Mannes gewesen sein muß, der vor uns liegt. Sie hatte sich vom Körper des Schwerkranken gelöst und ist auf eine kurze Wanderschaft gegangen. Ich war in der Zeit bei ihm und hörte keinen Atem. Selbst sein Herz stand still. Das änderte sich nach zwei Minuten vielleicht, als seine Seele, nicht sichtbar für mich, wieder in den Körper hineinfuhr.«
Was sollte ich zu dieser Erklärung sagen? Nichts, ich mußte sie erst einmal schlucken. Bisher sah ich noch kein Land, zudem wollte ich wissen, um wen es sich bei dem Toten und jetzt wieder Lebendigen handelte, und ich stellte die entsprechende Frage.
Der Rabbi ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. Schließlich sagte er leise, aber durchaus verständlich. »Das ist Nathan, mein Sohn…«
***
Auch in meinem Job lernt man nie aus. Es gibt immer wieder Überraschungen.
Ich schüttelte den Kopf, hob die Schultern und spürte Trockenheit in meinem Mund.
»Sie glauben mir nicht, Mr. Sinclair?«
»Selbstverständlich glaube ich Ihnen. Nur ist diese Eröffnung für mich etwas überraschend erfolgt.«
»Das glaube ich Ihnen sogar.«
»Nathan, ihr Sohn, der schon tot war, dann wieder gesundete, aber nun auf der Schwelle zwischen Leben und Tod liegt, wenn ich das richtig sehe.«
»So ist es.«
»War er krank? Wie ist er in diesen Zustand hineingeraten?«
Der Rabbi nickte betrübt. »Nathan hatte eine heimtückische Krankheit. Er wurde von Tag zu Tag schwächer, er verlor den Willen, am Leben zu bleiben, und mir kam es vor wie ein Fluch, der sich über unseren Sohn gelegt hat.« Er sprach mit flüsternder Stimme weiter, seine Worte wehten mir über das Bett hinweg entgegen. »Es gab keine Rettung für ihn, ich habe gebetet, wurde nicht erhört, und Nathan siechte dahin. Manchmal wacht er auf, dann kann er sprechen, aber er redet oft wie ein Fremder zu mir und nennt andere Namen.«
»Welche?«
»Die der Erzengel.«
Ich blickte ihn überrascht an. »Welche denn?«
»Michael, Raphael, Gabriel, Uriel, Raguel, Suriel, Sikiel und wie sie alle heißen.«
Ich schluckte. »Kennen Sie vielleicht den Grund für dieses Aussprechen der Namen?«
»Darüber habe ich lange nachgedacht. Nun kommen wir zu dem Punkt, über den ich vorhin mit Ihnen gesprochen habe, über die Kabbala. Das Aussprechen der Namen muß seinen Grund in unserer alten Lehre haben. Sie erinnern sich, daß ich die positive Dogmatik erwähnte, über Engel, Dämonen, Sphären der Welt und Seelenwanderung sprach.«
»Das habe ich nicht vergessen.« Ich dachte schon eine Stufe weiter.
»Und Sie meinen jetzt, daß die Seele Ihres Sohnes in meine unmittelbare Nähe gewandert ist.«
»Davon gehe ich aus.«
»Aber aus welchem Grund kehrte sie dann in den Körper zurück?«
»Weil sie ihren richtigen Weg oder ihre richtige Verwandlung noch nicht gefunden hatte.«
Ich gestattete mir ein Lächeln. »Das ist mir ehrlich gesagt ein wenig zu hoch.«
»Ich kann es mir denken. Mein Sohn ist noch nicht reif für den Tod. Er
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