060 - Der Henker von London
Hauptsächlich auf dem Friedhof.“
„Warum?“ fragte ich bestürzt. „Wollen Sie da die Wurzel allen Übels suchen?“
Ascorda grinste. „Nicht unbedingt die wahre, Sir. Aber zumindest eine glaubhafte für unsere Leser. Vielleicht gibt es einen alten Richter, der hier vor ewigen Zeiten gestorben ist. Daraus könnte man was machen.“
„Oder einen Henker“, sagte ich klanglos.
Er sah mich überrascht an. „Das – klingt, als hätte es tatsächlich einen gegeben.“
„Es hat einen gegeben, Ascorda. Ein Bursche namens Arwanus. Die Leute nannten ihn den Würgehenker, weil er die Verurteilten erst mit den Händen erwürgte und ihnen danach erst den Kopf abschlug, damit ihre schlechten Gedanken nicht mehr in den Körper finden konnten.“
Der Reporter war völlig aus dem Häuschen.
„Wenn das stimmt!“ rief er aus. „Es wäre die Story meines Lebens!“
„Es stimmt. Arwanus vollstreckte über tausend Todesurteile in vier Jahren. Von 1731 bis 1734. Wenn Sie noch mehr wissen wollen – das Buch dort auf dem Tisch wird Ihnen Rede und Antwort stehen. Sie können es mitnehmen. Aber ich möchte es wiederhaben.“
Der Reporter stürzte zum Tisch hinüber, nahm das alte, in Leder gebundene Werk in die Hände und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das Buch der schwarzen Richter! Sir, ich danke Ihnen, und seien Sie gewiß, daß ich auf diese Kostbarkeit achtgeben werde, als sei es ein Stück von mir selbst. Morgen bringe ich Ihnen das Buch wieder vorbei!“
Morgen! Wer wußte schon, was morgen war.
Ascorda klemmte sich das Werk unter den Arm und stürzte mit dem Gefühl davon, wieder mal den richtigen Riecher gehabt zu haben. Ich blieb im Sessel sitzen, wartete. Die Haustür fiel krachend ins Schloß, draußen wurde ein Wagen angelassen, die Reifen drehten durch, noch einmal heulte der Motor auf, dann jagte der Wagen davon.
Mit erzwungener Ruhe rauchte ich die Zigarette zu Ende. Sie schmeckte mir nicht mehr. Aber mein Leben schmeckte mir noch viel weniger, und ich mußte Schluß damit machen. Irgendwie.
Nach ein paar Minuten drückte ich die Kippe im Aschenbecher aus, erhob mich und stieg wieder in den Keller hinunter. Das Licht brannte noch, die Taschenlampe stand auf der untersten Stufe. Ich ging langsam, denn jetzt hatte ich Zeit. Nichts eilte mehr, nicht einmal der Tod. Als ich unten anlangte, nahm ich die Taschenlampe vom Boden auf, knipste sie an, schlurfte mit müden Schritten auf die offene Steintür zu.
Als erstes fiel der Lichtkegel auf die beiden Skelette der so erbärmlich umgekommenen Kreaturen. Schaudernd wandte ich mich ab, leuchtete zu dem Steinblock hinüber.
Alles war noch das gleiche. Das Blut, der Steinquader. Nur etwas hatte sich verändert: Potter war nicht mehr da!
Schreiend brach ich auf dem Fußboden zusammen.
Ascorda hatte noch nicht das Dorfende erreicht, als er plötzlich heftig die Bremse trat. Der Wagen schlingerte noch ein paar Meter weiter und kam dann am Straßenrand zum Stehen. Ascorda stieß die Beifahrertür auf, beugte sich über den Sitz zur Seite und starrte sprachlos den Mann in dem zerknitterten Regenmantel an.
„Sergeant Potter!“ rief er überrascht. „Was machen Sie denn hier? Der halbe Yard sucht Sie seit zwei Tagen! Kommen Sie, steigen Sie ein!“
Potter lächelte dankbar und kletterte umständlich in das Auto. Ascorda rümpfte die Nase, als der Sergeant neben ihm saß. „In welchem Loch haben Sie sich denn ’rumgetrieben? Sie machen ja einen schrecklichen Eindruck.“
Potter sah ihn verwirrt an.
„Fragen Sie mich nicht. Ich kann es Ihnen nicht beantworten. Plötzlich stand ich hier, mitten auf der Straße.“
„Wie Mrs. Haley zu ihren Lebzeiten.“ Ascorda legte einen Gang ein und fuhr langsam weiter. „Gar keine Erinnerung?“ fragte er dann neugierig.
Potter schüttelte den Kopf.
„Nicht einen Schimmer. Aber mir geht’s miserabel. So schlecht wie im Augenblick habe ich mich noch nie gefühlt.“ Er schwieg sekundenlang und fragte plötzlich: „Was sagten Sie eben: Mrs. Haley ist gestorben?“
Ascorda starrte zerknirscht auf die Straße hinaus.
„Gestorben ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck. Sie sah genauso scheußlich zugerichtet aus wie all die anderen Opfer.“
„Mein Gott …“
Sie schwiegen eine Weile. Ascorda blickte verstohlen zur Seite. Potter sah wirklich elend aus. Blaß, als hätte seine Haut noch nie einen Sonnenstrahl zu spüren bekommen.
„Wo soll ich Sie hinfahren?“ fragte er besorgt. „Zum
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