060 - Der Henker von London
zerfetzt und ihm die Organe herausgerissen haben.
Potter war innen hohl wie eine taube Nuß!
Ich schlug die Augen auf, spürte im gleichen Augenblick die Feuchtigkeit des Bodens durch den dünnen Pyjamastoff dringen und wußte, wo ich mich befand. Es war dunkel um mich herum. Vom Keller drang matter Lichtschein durch die Öffnung zur Gruft, doch genügte die armselige Lampe nicht, um auch den Raum zu erhellen.
Ich rappelte mich stöhnend in die Höhe. Es gab keinen Knochen in meinem Leib, der nicht schmerzte, keinen Muskel, der mich nicht wie unter der Streckfolter peinigte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich schwankend in der Finsternis stand und begriff, warum ich die Besinnung verloren hatte. Potter war fort! Diese gräßlich zugerichtete Leiche, die nur noch ein ausgehöhlter, leerer Körper war, hatte nicht mehr auf dem Steinquader gelegen! Wie konnte der Körper verschwinden, während ich mit Ascorda im Wohnzimmer saß und eine Zigarette rauchte?
Ich torkelte durch die niedrige Öffnung in den Keller des Hauses zurück, stolperte über die Korbtruhe, fiel krachend auf die harten Steine, richtete mich unter wahnsinnigen Schmerzen wieder auf, zog mich die Kellertreppe hinauf!
Weg! Ich wollte fort von hier! Unter Menschen, wollte sehen, wie das Leben pulsierte, wollte Gelächter hören, Heiterkeit zu spüren bekommen!
Es war eine mühselige Arbeit, bis ich es endlich geschafft hatte und in der offenen Tür zum Wohnzimmer auf dem Fußboden lag. Minutenlang hielt ich keuchend inne, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Ich sammelte Kraft, pumpte Luft in meine Lungen, erholte mich langsam, kroch weiter auf die Terrassentür zu, die in den Garten hinausführte. Von dort bis zur Garage waren es nur noch wenige Meter. Ich würde sie schaffen. Mußte sie schaffen!
Wieder blieb ich liegen, erholte mich.
Was hast du davon, wenn du im Wagen sitzt und wegfährst? fragte ich mich plötzlich. Arwanus wird dich finden. Überall wird er dich finden, deinen Körper aushöhlen, deine Kraft aus dir heraussaugen, damit er selbst zu Kräften kommt. Er wird Blut trinken, um seinen Körper zu festigen, und andere Bestien werden mordend durch die nächtlichen Straßen ziehen.
Nein, ich mußte warten! Ich wußte zwar nicht, für welchen Zweck er mich noch brauchte, warum er nicht seine Kraft auch von anderen Menschen stahl. Schließlich gab es ja noch viele Männer, die über eine große Menge Energie verfügten. Bei mir war doch nichts mehr zu holen. Schwach und ausgelaugt wie ein alter Greis war ich! Und doch brauchte er mich. Er würde kommen, mich holen, mir den Rest geben!
Alles war mit einemmal klar. Viel früher hätte ich es tun müssen. Weglaufen würde niemandem helfen, nicht einmal mir selbst. Warum also quälte ich mich, schleppte mich die Treppe hinauf, verbrauchte meine letzten Reserven?
Ich lag ganz still auf dem Teppich des Wohnzimmers, atmete, ruhte. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Der Abend senkte sich über den Garten vor dem Fenster, die Dämmerung brach herein. Ich lag still. Hatte Zeit. Er war immer gegen zehn Uhr gekommen. Ich erwartete ihn.
Um halb zehn erhob ich mich langsam. Alles schmerzte, aber ich war nicht mehr so ausgepumpt wie vor ein paar Stunden, als ich so unnötig meine Kraft verbraucht hatte. Ich ging in die Küche hinüber, sah dort wieder auf die Uhr. Eine halbe Stunde noch. Höchstens.
Ich zog die Besteckschublade auf, wählte sorgfältig und lange und entschied mich für ein Metzgermesser mit langer, schmaler Klinge. Es lag am besten in der Hand.
Die Treppe zum Keller. Feuchte, muffige Luft. Alles in mir war kalt, tot. Ich hatte gerechnet und den Schlußstrich gezogen, jetzt brauchte ich das alles nur noch ins reine zu schreiben …
Sieben Schritte bis zum Korb, eine Biegung, dann die Dunkelheit der Gruft. Im schwachen Lichtschimmer, der durch die Tür hereinfiel, sah ich die beiden bleichen Skelette auf dem Boden liegen. So, als würden sie auf den Sandsteinblock zukriechen, und der Tod hatte sie überrascht.
Mich würde er nicht überraschen. Nun nicht mehr. Eine Weile stand ich still da, lauschte in die Finsternis, wartete. Ich lächelte. Er würde kommen. Dieser Mann, mit dem Gesicht, das mir so bekannt vorkam und von dem ich nie gewußt hatte, wo ich es hinstecken sollte. Fast ein Mensch, und das hatte er vergessen: Er war ein Mensch, ein verletzlicher Mensch! Einer, der noch im Werden, und daher um so verletzlicher war! Kein Ungeheuer würde mir
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