060 - Der Henker von London
Potter …“, flüsterte ich tonlos. „Das haben Sie allein mir zu verdanken …“
Oben, an der Kellertür hörte ich ein Geräusch. Die Tür quietschte leise in den Angeln.
Ascorda fand die Haustür des Inspektors unverschlossen. Nachdem er ein paarmal den Türklopfer betätigt hatte und niemand kam, schob er die Tür auf und trat ein.
„Inspektor Condell!“ rief er, als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, die hinauf in den ersten Stock führte. „Besuch für Sie! Ich bin’s, Ascorda!“
Keine Antwort. Absolute Stille. Der Reporter machte sich auf die Suche. Nach einem Gang durch Wohnzimmer, Küche, Arbeitszimmer und dem unteren Bad, stieg er die Treppe hinauf.
Die Schlafzimmertür war offen, das Bett zerwühlt, aber von Condell. nicht die geringste Spur.
Kopfschüttelnd stieg er wieder hinunter, ging im Garten ums Haus herum, aber auch hier fand er den Inspektor von Scotland Yard nicht. Die Kellertür nahm er sich als letztes vor, und hier hatte er scheinbar Glück.
Sie quietschte leise, als er sie öffnete. Dahinter brannte Licht auf der Treppe, die nach unten führte. Er tat ein, zwei Schritte, dann erschien Condell am Fuß der Treppe. Er trug einen völlig verschmutzten Schlafanzug, hatte die Jacke des Pyjamas geöffnet und hielt eine Taschenlampe in der Hand.
„Ascorda!“ schrie er hysterisch.
„Was, zum Teufel, suchen Sie hier?“
Der Reporter wich zurück, stolperte auf den Flur hinaus.
„Ich wollte Sie besuchen“, sagte er hastig. „Ich hörte, Ihnen geht es nicht gut.“
Condell zog sich an dem eisernen Geländer die Treppe hinauf. Es sah müde aus, mager und um Jahre gealtert. Als er keuchend die letzte Stufe erreicht hatte, blieb er einen Augenblick lang stehen, lächelte abgespannt.
„Entschuldigen Sie“, sagte er heiser. „Aber ich bin völlig fertig und nervös. Wenn man sich gerade in einem so alten Keller wie diesem hier aufhält, und oben knarrt eine Tür, obwohl eigentlich gar keiner da sein kann, dann gehen einem schon mal die Nerven durch.“
„Die Haustür war offen“, sagte Ascorda entschuldigend und folgte dem Inspektor, der an ihm vorbei langsam zur Wohnzimmertür humpelte. „Und da sich niemand auf mein Klopfen hin zeigte, dachte ich, sieh mal nach, ob’s dem Inspektor gutgeht.“
Condell sank in einen Sessel nahe dem Fenster, schloß für Sekunden die Augen. „Sie sehen ja“, sagte er schwach. „Mir geht es blendend.“
Peinliche Stille. Ascorda hüstelte verlegen. „Es tut mir leid, wenn ich so ungelegen hereinplatze. Ehrlich …“
„Schon gut, schon gut.“ Condell schlug wieder die Augen auf und deutete mit einer müden Bewegung auf einen der Sessel. Ascorda setzte sich, starrte sein Gegenüber an. Blaß, alt und völlig fertig ist der Mann, sagte ihm eine innere Stimme. Ich wette, er hat vor etwas Angst. Angst wie ich selber, ich, der angesehene Chefreporter der Evening Post.
„Ich habe eine Frage“, sagte Ascorda langsam und beobachtete den Inspektor dabei genau: „Könnte es sein, daß das Grauen von diesem Dörfchen ausgeht, Inspektor? Zuviel hat sich hier zugetragen, als daß es ein Zufall sein könnte.“
Condell sah ihn aus aufgerissenen, erschrockenen Augen an.
„Unsinn!“ widersprach er. „Wie kommen Sie denn darauf?“
Er liest mir die Lüge vom Gesicht ab, dachte ich. Ascorda ist kein Dummkopf, und umsonst ist er nicht hier herausgefahren.
„Haben Sie vielleicht eine Zigarette für mich?“ fragte ich so ruhig wie möglich. „Ich habe schon seit Tagen keine mehr zwischen den Lippen gehabt.“
„Natürlich.“ Ascorda zog ein Päckchen aus der Tasche und hielt es mir hin. Meine Finger zitterten ein wenig, als ich eine Zigarette herauszog. Der Reporter erhob sich und gab mir Feuer.
„Danke“, sagte ich, lehnte mich gegen die Lehne des Sessels, genoß die Harmlosigkeit, die Ruhe des Augenblicks. Wie eine innere Befreiung zog der Rauch durch meine Lungen. Es gelang mir sogar, ein Lächeln zustande zu bringen. „Was machen die Berichte?“
Ascorda musterte mich unverhohlen.
„Ich wäre froh, ich könnte wieder über Eisenbahnunglücke schreiben“, antwortete er nach einer Weile. „Wenn es so weitergeht, wird die Einwohnerzahl Londons merklich zusammenschrumpfen.“
„Ja“, sagte ich.
Er schwieg, ich schwieg. Als es anfing, peinlich zu werden, erhob er sich. „Also, dann wünsche ich Ihnen gute Besserung“, sagte er. „Ich werde mich jetzt noch ein wenig bei Ihnen im Dorf umsehen.
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