060 - Der Henker von London
und Bosheit säen und die Macht zum Grauen machen?“
„Ich war Arwanus.“ Die Stimme klingt ein wenig erstaunt. „Aber Arwanus’ Geist hat sich mit dem deinen gepaart, John. Er ist stark geworden. In mir steckt Weisheit, Haß und Gerechtigkeit der alten und der neuen Welt. Das bedeutet: Weder ein Geist der alten, noch die Energie der neuen Welt wird diesen neugeborenen Geist vernichten können. Die Welt braucht ihren Richter, John. Das war schon immer so. Und bedenke, daß es dein Ruf nach Gerechtigkeit war, der bis zu mir in dieses Gewölbe drang, den Funken entfachte, der meine Kraft stärker werden ließ. Der mir Kraft gab, mich zu materialisieren.“
„Ich weiß“, hörte ich mich mit heiserer Stimme sagen. „Es begann erst mit einem schemenhaften Gesicht.“
Die Stimme lachte leise.
„Ja und später genügte es nicht mehr, dich auszuhöhlen, dir die Wärme zu stehlen, indem du zu einem starren, willenlosen Monstrum wurdest. Ich brauchte Blut. Blut, dieses Lebenselixier, das mich dem Menschen gleichmacht.“
Plötzlich tritt er einen Schritt nach vorne. Es ist mehr ein Gleiten als ein Gehen, und es erinnert mich an den Gang eines Raubtieres. Du bist zu nah, Arwanus! Du bist mir auf den Leim gegangen! Blitzschnell stoße ich mich von dem Stein ab, mein rechter Arm schnellt nach vorn auf den gestohlenen Schatten zu. Aber Arwanus ist auf der Hut gewesen. Zwar spüre ich, wie mein Messer tief in seinen Oberarm gleitet, doch ich mache mir nichts vor: Der Angriff ist mißlungen! Ein leises Stöhnen kommt über seine Lippen. Dann zuckt mein Arm wieder vor. Tödlich wie der Stachel einer Hornisse.
„John!“ Sein Schlag trifft mich schmerzhaft im Gesicht. Er weicht zur Seite, und von der Wucht meines Angriffs werde ich nach vorn getrieben, stolpere in den erleuchteten Keller meines Hauses.
Aus der Dunkelheit des rechteckigen Loches löst sich eine Gestalt; sie tritt heraus, matter Lichtschein überschüttet sie mit weichen Schatten, aber das, was ich sehe, genügt, daß ich vor Entsetzen erstarrte.
„Wie sehe ich aus, John?“ Mein Gegenüber lächelt mich an. „Nun?“
„Gut“, kommt es gepreßt über meine Lippen. „Du hast dich gut erholt, John …“
Mein Spiegelbild lächelt immer noch.
Das Messer fällt klappernd auf den Steinfußboden. Es war einmal im Werden, dieses Gesicht, das mir immer so bekannt vorgekommen war in meinen Erinnerungen. Das Lachen, der Körper, der später dazukam, seine Art zu gehen. Das alles war John Condell! Ich atme schwer, kann es immer noch nicht begreifen. Aus nichts war ein Körper entstanden. Mein Körper!
„Laß uns nach oben gehen, John. Wir werden uns vernünftig miteinander unterhalten. Es hat keinen Sinn, gegeneinander zu kämpfen. Du kannst dein eigenes Ich nicht töten.“
„Du bist nicht mein eigenes Ich!“ stoße ich hervor. „Du bist ein Etwas, das sich aus nichts gebildet hat.“
„Unsinn, aus nichts wird nichts. Aber es gibt kein Nichts, John. Es hat nie eines gegeben. Oder willst du behaupten, Energie wäre nichts?“
Ich weiß es nicht! Will es nicht wissen! Ich sehe nur, daß mir ein Mensch gegenübersteht, der aussieht wie ich. Es ist ungeheuerlich, unfaßbar!
„Ich bin ein Teil von dir“, sagt der John, der mir gegenübersteht, ruhig. „Ich bin ein Teil deiner Seele, ein Teil deines Blutes, ein Teil deiner Kraft, deiner Wärme und Energie. Ich trat aus deinem Körper heraus, und zurück blieb eine gläserne, kalte Hülle, die vom Geiste des Arwanus beherrscht wurde. Nachdem das Blut der Verfluchten mich gestärkt hatte, kroch in in deinen Körper zurück. Aber nicht ganz. Etwas blieb immer draußen. Du wurdest schwächer und schwächer; ich Tag für Tag stärker. Dein Körper hat sich um meinen Geist neu gebildet.“
„Sei still!“ keuche ich. „Ich will es nicht mehr hören!“
„Das ist auch nicht mehr nötig“, sagt mein Gegenüber leise. „Du bist dir doch im klaren darüber, daß Arwanus nur einmal existieren darf. Es ist dein Pech, daß er sich dafür deinen Körper ausgesucht hat, John! Ich schlage dir vor, du unterliegst mir, ohne daß ich dich dazu zwingen muß. Bedenke immer, daß John trotz allem weiterlebt. Nur das ausgemergelte Wrack des zweiten John stirbt, weil es nutzlos geworden ist. In meinem Körper ist die alte und die neue Welt vereinigt, John. Was willst du mit dir auf der Welt anfangen, der du nur ein Teil von dir bist?“
Er kommt auf mich zu. Langsam, mit elastischem, leicht federndem Gang.
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