060 - Der Henker von London
Inspektor. Ich fürchte, sie wird uns noch einiges Kopfzerbrechen bereiten.“
Potter trat ein, und bevor er guten Morgen sagen konnte, stürmte hinter ihm ein junger Beamter in den Raum.
„Eben haben wir einen Anruf gekriegt“, stieß er hervor. „Von einer gewissen Mrs. Haley. Sie behauptet, heute nacht auf eigenartige Weise nach Soho gekommen zu sein. Heute morgen fuhr sie nach Hause und fand ihren Mann tot in der Garage vor. Er muß entsetzlich aussehen, die Frau war völlig hysterisch.“
Dan verließ aufgebracht seinen Fensterplatz.
„Die Bestie! Herr im Himmel, laß es einen schlechten Traum sein!“
„Was haben Sie da eben von Soho gesagt?“ fragte ich den Beamten fassungslos.
„Die Frau am Telefon sagte, sie wüßte nicht, wie sie dahin gekommen ist. Plötzlich war sie da.“
„Das gleiche wie bei O’Neil“, stellte ich fest. „Der wußte wahrscheinlich auch nicht, wie er zum East-India-Dock gekommen ist.“
Dan sah mich überrascht an.
„Aber als er wieder in die Gegenwart zurückkam, stand die Bestie vor ihm, um ihn zu töten. In diesem Fall wurde die Frau weggelockt, und ihr Mann mußte sterben.“
„Vielleicht bringt uns das der Lösung etwas näher“, sagte ich. „Los, fahren wir zu der Frau. Potter, rufen Sie die Leute von der Mordkommission an, sie sollen ebenfalls zu Mrs. Haley kommen.“ Ich fragte den Sergeant, der uns die Schreckensbotschaft überbracht hatte, nach der Adresse.
„In Sanderstead“, antwortete der Beamte, „Ploon Road 74.“
„Nein!“ rief ich aus. Potter und Dan blickten mich bestürzt an.
„Ploon Road vierundsiebzig …“, wiederholte Dan. „Das ist doch unmöglich! Welche Nummer hat dein Haus, John?“
„Einundsiebzig“, antwortete ich völlig verwirrt. „Ich wohne in der Ploon Road 71.“
Ich kannte das Haus. Bis vor einem Jahr hatte der alte McGrees darin gewohnt. Ein eigenartiger, stiller Kauz, der für nichts anderes auf der Welt zu leben schien, als für seine Heckenrosen. Das alte Haus stand dem meinen schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Es mochte gute hundert Jahre auf dem Buckel haben, und genauso hatte es auch immer ausgesehen. Dann war McGrees gestorben. Die Haleys zogen ein. Peter Haley war der Neffe des Alten. Im Testament hatte McGrees ihm und Haleys Frau das Haus vermacht und – was wie ein Lauffeuer durch die Straße ging – einige zigtausend Pfund dazu. Niemand hatte dem alten, bärbeißigen und schweigsamen Mann ein solches Vermögen zugetraut. Die Haleys staunten ebenfalls. Aber unglücklich waren sie wohl deshalb nicht.
Während ich in meinem Wagen den Weg wieder zurückfuhr, den ich vor einer Stunde noch in der anderen Richtung entlanggefahren war, machte ich mir meine Gedanken über die Haleys.
Wenn ich mich richtig erinnerte, war McGrees vor etwa einem Jahr gestorben. Einen Monat später zogen die Haleys ein. Die Frau hatte ich ein paarmal gesehen, von ihm immer nur das Profil, wenn er in seinem Austin in den Weg zu seinem Haus einbog. Einen Monat vor ihrem Einzug waren Maurer, Klempner, Verputzer gekommen. Maler rannten herum, Glaser trampelten über den satten, grünen Rasen, setzten neue Scheiben in die vergrößerten Fenster ein. Aus dem alten Hexenhäuschen wurde innerhalb eines Monats ein schmuckes, helles Haus.
Und nun war Peter Haley tot. Viel hatte er nicht gehabt von seinem neuen Zuhause.
Ein Polizeiwagen stand in der Einfahrt, als ich das Haus kurz vor Dan Reed erreichte. Ich war noch nicht richtig aus dem Wagen heraus, als ein uniformierter Polizist aus der Garage Haleys gewankt kam. Ich erkannte den riesigen Mann sofort. Es war Wanner, der einzige Polizeibeamte in Sanderstead. Nur hatte ich ihn noch nie so grün im Gesicht gesehen.
„Hallo, Inspektor!“ sagte er mühsam beherrscht, grüßte flüchtig und nickte dem gerade eingetroffenen Dan Reed ebenfalls einen Gruß zu. „Er liegt in der Garage. Schlimme Sache. Hab’ noch nie eine Leiche gesehen, die so zugerichtet war.“
Wir gingen zum Tatort. In der Garage brannte Licht, und man brauchte nicht lange zu suchen, um den Leichnam Haleys zu finden.
Er lag in einer Nische, seine Jacke war zerrissen, blutdurchtränkt. Starres, ungläubiges Entsetzen stand in den gebrochenen, hervorgequollenen Augen. Sein Mund war weit aufgerissen und nur noch ein einziges blutiges Loch.
„Die Zunge …“, flüsterte Potter in meinem Rücken.
Draußen heulten Sirenen heran, Reifen quietschten. Die Einsatzwagen der Mordkommission
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