0607 - U-Bahn ins Jenseits
gelang es den Fetzen, sich immer wieder zu formieren und an einer bestimmten Stelle sogar aufzulösen.
Und dort befand sich etwas.
Zunächst zitternd zeigte sich genau vor der Scheibe ein Umriß. Er sah aus wie ein Gespenst, war ebenfalls hell gekleidet und schwebte auf den Zug zu, ohne von der Maschine erfaßt und zerstört zu werden. Dieses Phänomen begriffen weder Suko noch ich.
»Wer ist das?« flüsterte Suko.
»Keine Ahnung.«
Die Gestalt hatte sich immer schärfer herauskristallisiert und sah jetzt aus wie eine Puppe. Sie trug ein langes Gewand, zu vergleichen mit einem Nachthemd, dessen Stoff in der oberen Körperhälfte sehr dicht war, nach unten hin jedoch ein wenig durchsichtig wurde. Nur ein wenig durchsichtig – wie der Nebel. Aus dem Halsausschnitt wuchs ein knochig wirkendes Gesicht mit gelblicher, dünner Haut, die so aussah, als würde sie jeden Moment zerreißen. Hellgraues Haar umwirbelte im Fahrwind den Kopf.
Das Gesicht sah dunkler aus als das Gewand, das die Person trug.
Wenn mich nicht alles täuschte, besaß die Haut einen bläulichen Schimmer, der sich allerdings nicht in den Augen fortsetzte. Diese wiederum wirkten weiß und bleich.
Eine Nase sahen wir ebenfalls, dazu ein Kinn, das sehr spitz zulief, wobei sich alles noch deutlicher hervorhob, denn die Gestalt wehte gegen den Zug.
»Ist das Kaifas?« fragte Suko.
»Wie kommst du darauf?«
Er hob die Schultern. »Ein Gefühl, John. Irgendein verdammtes Gefühl, weißt du?«
»Ja, du kannst recht haben.«
»Wenn es Kaifas sein sollte, hat er sich verändert. Er sieht aus wie ein Zombie.«
»Mehr wie eine Leiche, die schon zwei Monate in irgendeinem feuchten Grab gelegen hat.«
»Auch das.«
Als wollte uns die Gestalt umarmen, so breitete sie die Arme aus, aber sie legte sie gegen die Scheibe und drückte die Hände an ihren beiden Seiten fest. Dann grinste das Maul. Die Augen öffneten sich noch weiter und zeigten ein gefährliches Leuchten.
Ich hob meine Beretta an, zielte nicht nur gegen die Scheibe, sondern auch zwischen die Augen der Gestalt.
Suko pfiff leise. »Wenn du es schaffst, bis ich…«
Bevor ich abdrücken konnte, löste sich das Wesen auf. Für uns sah es aus, als hätten aus den Schwaden Hände zugepackt und das Wesen weggezogen.
Es flatterte noch wie ein Stück Papier in den Nebel hinein und war nicht mehr zu sehen.
Aus, vorbei…
Enttäuscht ließ ich die Waffe sinken, um im nächsten Augenblick zusammenzuzucken. Durch den Zug fuhr ein gewaltiges Rütteln und Schütteln. Eine nicht mehr kontrollierbare Kraft wirbelte uns nach vorn auf die Frontscheibe zu.
Es gelang uns, eine Stange zu umgreifen, aber mit mir spielte die Kraft dennoch, denn sie drückte meinen Körper nach rechts, und ich schleifte mit den Füßen über den Boden.
Suko hatte der Druck gegen die Tür gepreßt. Er klammerte sich trotzdem fest.
Wir hörten das Quietschen, nahmen das Schleifen der Räder wahr.
Es waren völlig normale Geräusche, als würde die Bahn auch auf Schienen laufen. Wir bekamen noch einmal den Ruck mit, als sie endlich zum Stillstand kam.
Jetzt ging nichts mehr.
Ich holte tief Luft, gab mir selbst Schwung und wäre fast mit Suko zusammengeprallt, den es auch nicht mehr an der Tür gehalten hatte. »Der Zug hat gehalten, John, was bedeutet das?«
»Aussteigen, Herr Lehrer.«
»Richtig.«
Ich stand näher an der Tür, öffnete sie noch nicht, sondern blickte erst durch das Fenster nach draußen, wo sich auch weiterhin der schwefelartige Dampf ausbreitete und in seichten Schleiern rechts und links vorbeistrich.
»Was ist das für eine Welt?« fragte Suko nicht ohne Grund.
»Das werden wir gleich wissen«, erwiderte ich und öffnete die Wagentür…
***
Es gibt Tage, wo man keine Lust hat, das Büro zu verlassen und sogar gern bleibt. Einen solchen Tag erlebte Glenda Perkins. Eigentlich hätte sie schon längst Feierabend gehabt, doch sie brauchte nur nach draußen zu schauen, um zu wissen, daß sie im Büro in den nächsten Stunden besser aufgehoben war.
Es war kühl geworden. Hinzu kamen der Nieselregen und der Nebel, der in Londons Straßen dampfte. Die Nässe, die Kühle und der Dunst, das war alles nichts für sie. Obwohl der Sommer erst kurze Zeit zurücklag und wirklich sehr heiß und lang gewesen war, sehnte sich Glenda nach ihm zurück.
Sie arbeitete für John Sinclair und Suko. Beide hatten das Büro längst verlassen, und Glenda konnte sich den Dingen widmen, die liegengeblieben waren.
Da
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