061 - Der Zinker
schon nächste Woche. Ist das nicht - ist das nicht entsetzlich?«
Spätestens jetzt wußte er, daß er dieses Mädchen liebte. Diese Erkenntnis erschütterte ihn. Er hatte es die ganze Zeit gefühlt, aber er war der Tatsache immer wieder ausgewichen.
»Heiraten - schon nächste Woche«, wiederholte er mechanisch. »Das ist sehr schnell.«
Sie sahen sich an und mußten trotz allem lachen.
»Onkel Lew wollte es so. Er fragte mich heute morgen, und - ich konnte nicht nein sagen, konnte nichts dagegen vorbringen. Er sagte mir, daß er es sich lange überlegt und vor zwei Tagen einen besonderen Erlaubnisschein besorgt habe.«
»Eine besondere Erlaubnis?«
»Ja, die Trauung soll auf dem Standesamt stattfinden. Frank wollte ja lieber eine kirchliche Trauung, Gottesdienst mit Chorgesang, öffentlichen Empfang und dergleichen - aber Onkel Lew war dagegen. O John, er war ja so gut zu mir - Sie wissen nicht, was er alles ...«
Er sah, daß ihr Tränen in die Augen stiegen, und war erstaunt.
»Meinen Sie, weil er die Hochzeit für Sie arrangiert hat?«
»Nein -« rief sie ungeduldig, » ich meine die Zeit, als ich noch ein Kind war. Er hat für mich gesorgt, mich großgezogen .«
Sprunghaft setzte sie hinzu: »Sie haben mir noch nicht einmal gratuliert!«
»Ja, ich weiß. Heiraten! Großer Gott!«
Sie waren jetzt in Green Park. Ihr Arm lag noch in seinem, und sie ging dicht neben ihm.
»Sicher werde ich glücklich. Frank ist gut und vernünftig - in allen Dingen ...« Es klang so, als wollte sie sich selbst überzeugen. »Heiraten wie diese gehen meist glücklich aus. Ich vermute, daß fast alle Ehen so wie meine geschlossen werden. Die Frauen kennen den Mann, den sie heiraten, doch erst, wenn sie einige Jahre mit ihm gelebt haben. Und einen Mann, den man über alle Maßen liebt ... Solche Dinge enden meistens unglücklich.«
»Was Sie da sagen, ist reiner Unsinn!«
»Ich weiß, daß es nicht richtig ist, was ich sage. John, ich bin so unglücklich, ich möchte am liebsten nicht heiraten, aber Onkel Lew will es nun mal unbedingt so haben. Wenn er mich jetzt noch einmal fragen würde, dann würde ich ihm sagen, daß ich überhaupt niemand heiraten will. Aber nun habe ich es ihm versprochen.«
»Hat er Ihnen sonst noch etwas Besonderes erzählt?«
»Von sich selbst und Ihrer Vergangenheit.«
»Wissen Sie, ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so sehr um die Zukunft sorgen, Beryl«, sagte er überraschend gefaßt. »Eine Woche hat sieben Tage, das ist eine lange Zeit!«
Aber sie widersprach.
»Wir sollten uns nicht täuschen. Ich werde heiraten, nichts wird es verhindern - nichts - nichts!«
»Dennoch, eine Woche bleibt noch - eine ganze Reihe von Tagen«, wiederholte er.
Sie nahm ihren Arm aus dem seinen.
»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Sehen Sie!« Sie zeigte auf die andere Straßenseite. »Dort drüben ist der merkwürdige Mann, der neulich abends zu uns kam und allerhand über Sie wissen wollte.«
»Wen meinen Sie? Da drüben gehen eine Menge Leute.«
Sie beschrieb ihm den Mann im braunen, abgetragenen Mantel.
»Er ist Reporter beim ›Postkurier‹, ich habe seinen Namen vergessen.«
»Harras«, sagte er, »Josua Harras, ein bekannter Kriminalberichterstatter!«
»Kennt er Sie?« fragte sie unruhig.
»Ich hoffe nicht. Harras kümmert sich nicht um kleine Missetäter. Sie müssen schon etwas ganz Außerordentliches verbrochen haben, wenn er sich für sie begeistern soll. Aber das muß man ihm lassen, ein Spürhund ist ein zahmes Schoßtierchen, verglichen mit Josua Harras.«
Wenn Mr. Harras sie erkannt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Scheinbar völlig in Gedanken versunken, die Hände auf dem Rücken, ging er vornübergeneigt, den Blick auf den Boden gerichtet, und nicht einmal die Flüche der wütenden Fußgänger, mit denen er zusammenstieß, konnten ihn aus seinen Träumen reißen.
»Was wollte er denn über mich wissen? Ich hatte keine Ahnung, daß man sich für mich interessieren könnte.«
Sie wußte nichts Genaues zu sagen, sie hatte nur ein paar der Fragen gehört, die Harras stellte, und Lew war nachher nicht mehr darauf zu sprechen gekommen.
John begleitete sie bis zur Haltestelle. Dort verabschiedete er sich. Sie hatte seine Vergangenheit nicht mehr erwähnt, und obwohl sie fest entschlossen gewesen war, mit ihm über seine Zukunft zu sprechen, fand sie den Mut dazu nicht mehr. Während sie auf ihre Bahn wartete, las sie zum erstenmal ein Wort, das in
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