061 - Der Zinker
seinen Nerven am Ende, und nach einer Weile steckte er auch Onkel Lew mit seiner Unruhe an.
Die Mahlzeit wollte kein Ende nehmen. Als man endlich beim Dessert und Kaffee angelangt war, meldete der Diener Mr. Josua Harras. Beryl erhob sich sofort.
»Ich glaube, er will mich sprechen«, versicherte sie und verließ eilig das Speisezimmer.
Doch Onkel Lew witterte jetzt überall Gefahren. Kaum war sie in der Halle, kam er auch schon hinter ihr her. Überrascht stellte er fest, daß Tillman verschwunden war. Nur der Diener und Josua Harras befanden sich in der Halle. Der Strohhut des Reporters war durch den ständigen Regen noch unansehnlicher geworden.
»Nun, Mr. Harras?« fragte Friedman. »Was bringen Sie für Nachrichten? Gute oder schlechte?«
Er stieß die Tür zur Bibliothek auf und half Harras beim Ausziehen des Mantels. Beryl durchschaute seine Absicht - er wollte verhindern, daß sie irgendwelche Nachrichten von Leslie erhielt. Im ersten Moment wurde sie zornig über diese Bevormundung, aber dann kam ihr ihre ganze ohnehin hoffnungslose Lage wieder zum Bewußtsein. Es war ja alles nicht so wichtig. Was konnte es auch helfen?
Zu ihrem Erstaunen kam ihr Onkel aber selbst darauf zu sprechen.
»Haben Sie irgendeine Botschaft von Leslie?«
Josua hustete verlegen.
»Nein - ich habe keine direkte Botschaft von Captain Leslie. Für niemand.«
Lew brummte zufrieden.
»Das ist gut ...«
»Also - ich habe keine Botschaft«, wiederholte Josua, »denn ich traf niemand, dem ich meinen Auftrag bestellen konnte. Captain Leslie ist auf Bürgschaft wieder freigelassen worden.«
Man sah die Bestürzung in Lews Zügen deutlich.
»Was, auf Bürgschaft freigelassen?« fragte er konsterniert. »Ein Mann, der früher schon im Gefängnis gesessen hat, und gegen den jetzt ein schwerwiegender Verdacht besteht - auf Bürgschaft freigelassen?«
»Ich bin selbst auch sehr erstaunt«, erwiderte Josua. »Ich sagte zum diensttuenden Polizeiinspektor, daß das ein außergewöhnlicher Fall sei.«
»Er ist also nicht mehr gefangen?« fragte Beryl. »Gott sei Dank!«
»Er ist nicht mehr im Gefängnis, das heißt, er ist aus der Untersuchungshaft in der Marlborough-Polizeistation entlassen worden, wo doch sonst Verhaftete vorläufig verwahrt werden. Daraufhin versuchte ich, ihn aufzufinden, aber er ist weder in seiner Wohnung noch im Büro.«
Die letzte Feststellung hatte Mr. Harras in wachsender Erregung vorgebracht.
Auf Sutton, der den andern in die Halle nachgefolgt war, machte die Neuigkeit einen erstaunlichen Eindruck. Er wurde blaß.
»Leslie freigelassen? Da hat man Ihnen nicht die Wahrheit gesagt!«
»Ich irre mich nicht«, verwahrte sich Josua gekränkt. »Entweder weiß ich etwas, oder ich weiß es nicht. Ich berichte nur Tatsachen - und Captain Leslie ist auf Bürgschaft entlassen worden. Es ist ein ganz merkwürdiges Vorkommnis, wie ich auch dem Polizeiinspektor vom Dienst sagte .«
»Ja, ja«, wehrte Lew ungeduldig ab, »wir wissen schon, was Sie dem Inspektor vom Dienst gesagt haben. Aber wann wurde er entlassen?«
»Wahrscheinlich nach dem Besuch von Inspektor Barrabal. Aber es ist nicht einmal sicher«, erläuterte Harras gereizt, »ob Barrabal ihn überhaupt aufgesucht hat. Möglicherweise hat mich Mr. Elford, dessen Unzuverlässigkeit ein öffentlicher Skandal ist, hinters Licht geführt. Einzig feststehende Tatsache ist, daß der Captain, als er die Marlborough-Polizeistation verließ, in einem Taxi mit unbekanntem Ziel davonfuhr.«
Dieser entschiedenen Erklärung folgte ein tiefes, betretenes Schweigen.
»Außerordentlich!« meinte schließlich Onkel Lew. Mehr fiel ihm dazu vorerst nicht ein. Er schaute auf die Uhr und nickte. »Aber von irgendwelcher Wichtigkeit ist es nicht. Wollen Sie etwas trinken, Mr. Harras?«
Josua nahm die Einladung gerne an. Als ihn Mr. Friedman durch die Halle führte, begann er unvermittelt von neuem:
»Wissen Sie, der Polizeiinspektor vom Dienst auf der Marlborough-Station - als ich ihm sagte, daß ... Entschuldigen Sie, wenn ich darauf zurückkomme - er hat eine lange Diensterfahrung und bestätigte mir ...«
»Der Mann hat sicher recht«, unterbrach Lew und schob Harras ins Wohnzimmer, wo er Millie Trent vorfand.
Sie wartete auf jemand anders, und es fiel ihr schwer, die Fassung zu bewahren.
»Was wollen Sie?« fuhr sie ihn an.
»Eine kleine Erfrischung!«
Josua rieb sich erwartungsvoll die Hände.
Auf dem Tisch standen eine Flasche Whisky, ein Siphon mit Sodawasser
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