0610 - Die Macht der Schlange
Fenster nach unten, aber da lagen keine Scherben.
Also war das Ding auf rätselhafte Weise tatsächlich nicht unten angekommen. Der Hausmeister konnte sich noch nicht um die Scherben gekümmert haben, der hatte sich noch nie vor Mittag aus seiner Kemenate gewagt.
Im TV lief inzwischen ein japanischer Zeichentrickfilm.
Mary-Ann beschloß, auch am Nachmittag ihrem Arbeitsplatz fernzubleiben. Mochte der Chef toben. Vielleicht würde er ihr ja mit der Kündigung drohen, aber das war ihr egal.
Alles war irgendwie egal.
Sie fühlte sich nicht danach, sich heute in die Tretmühle des Alltags zu begeben. Vielleicht ließ sich der Tag ja später auch als unbezahlter Urlaub verrechnen. Oder so. Wenn nicht - es kümmerte sie nicht. Sie beschloß, auch den Termin beim Arzt nicht wahrzunehmen.
Die Bißwunde tat ja nicht mehr weh, war praktisch verheilt, und sie spürte keinerlei Beeinträchtigung.
Warum sollte sie Geld dafür ausgeben, daß ihr jemand sagte, alles sei in Ordnung? Das sah sie ja selbst.
Alles war in bester Ordnung.
Aber in ihrer Wohnung blieb sie dennoch nicht.
Sie spürte den Drang, andere Menschen zu sehen.
Und sie zu beißen…
***
Das Bett neben Franco war leer, als er erwachte. Er tastete nach Dany, fand sie aber nicht. Da erhob er sich. Und erschrak.
Es war längst heller Tag! Nun, sein Chef hatte ihm ja schon die Kündigung geschrieben, und mehr als feuern konnte er ihn nicht. Also kam es jetzt nicht mehr darauf an, ob Franco pünktlich an seinem Arbeitsplatz erschien. Die einzige Gefahr bestand darin, daß das Zeugnis entsprechend negativ ausfiel.
Aber diesen Gedanken drängte Franco beiseite.
War Dany etwa schon wieder gegangen?
Nein, ihre Kleidung lag noch auf dem Boden neben dem Bett.
Und dann sah er sie.
Sie hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem schmalen Sessel inmitten seiner Horror-Sammlung, dort, wo er gestern einen Augenblick lang gesessen und nach einem Platz für ihr Geschenk gesucht hatte. Sie sah auf, als er sich ihr näherte. Ihre Augen waren irgendwie verschleiert.
»Huldige mir«, sagte sie.
Er lächelte. »Immer.«
»Ich bin deine Hohepriesterin.«
»Natürlich.« Das Bild aus seinem Alptraum blitzte wieder vor ihm auf: Dany mit dem Dolch in der Hand…
»Du wirst tun, was ich von dir verlange!« sagte sie.
»Selbstverständlich.« Er lächelte immer noch. Er war nicht sicher, ob sein Alptraum vielleicht plötzlich in die Wirklichkeit getreten war. Es konnte doch nicht sein…?
»Du wirst sterben, wenn ich es will.«
»Ja«, sagte er unbehaglich. »Aber damit lassen wir uns noch ein wenig Zeit, ja?«
Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder.
»Es bleibt weniger Zeit, als du denkst«, sagte sie.
Sie erhob sich und kam ihm entgegen, küßte ihn.
Dann sammelte sie ihre Kleidung auf, zog sich an und ging zur Tür.
»Was ist los?« fragte Franco. »Wohin gehst du?«
»Ich suche neue Opfer«, erwiderte sie ernst.
Und im nächsten Moment hatte sie seine Wohnung auch schon verlassen. Mit ein paar schnellen Schritten war er an der Tür, wollte ihr nach - und registrierte im letzten Moment, daß er noch immer im Adamskostüm war.
Dany hatte sich ihre Rollerblades untergeschnallt und jagte in einem Höllentempo auf den Kufenrädern davon. Keine Chance mehr, sie einzuholen. Franco kehrte in den Schlafraum zurück und ließ sich aufs Bett fallen.
Mit Dany stimmte etwas nicht.
Sie hatte sich verändert.
Und er sah sie wieder vor sich, wie sie in seinem Traum über ihm hockte und ihn ermordete, damit er sich in eine Schlange verwandelte.
Du wirst sterben, wenn ich es will…
So hatte sie früher nicht einmal im Scherz mit ihm geredet.
Er sprang wieder auf. Ging zurück ins Wohnzimmer und suchte nach ihrem Geschenk.
Da stand die Figur.
Und sie hatte sich verändert!
Sie war jetzt doppelt so groß wie gestern abend!
Nachdenklich und vorsichtig nahm Franco die Skulptur in beide Hände und betrachtete sie.
Ihr Gewicht schien sich seltsamerweise nicht verändert zu haben.
»Sieht so aus«, murmelte er, »als wärst du schuld an Danys Veränderung, wie?«
Gestern hatte er sich an den Zähnen der Figur die Haut geritzt. Diesmal war er vorsichtig.
Sehr vorsichtig. Die Figur machte ihn verdammt neugierig.
Sollte in ihr eine Magie stecken, die Dany beeinflußte? Er mußte es herausfinden!
Ein Grund mehr! seinem Ex-Chef eine Nase zu drehen und heute daheim zu bleiben. Franco hatte besseres zu tun, als an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen!
***
»Wir schauen
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