0619 - Das Para-Mädchen
langweilig geworden ist und er den Drachen ärgert. Rhett, mein Sohn.«
Eva sah sich um. In einer Ecke entdeckte sie einen Jungen, der zwischen vier und fünf Jahren alt sein mochte und hingebungsvoll damit beschäftigt war, ein Trimmgerät mit seinem Spielzeugwerkzeug zu bearbeiten. Erfreulicherweise richteten die hölzernen Schraubenschlüssel nichts aus. Aber was so nicht gelang, wurde von Fantasie ersetzt.
Gerade sah der Junge auf und entdeckte die Blonde. Er stutzte, dann kam er auf sie zugelaufen. Aus seinen großen Augen sah er zu ihr hoch.
»Wo hast du dein Einhorn gelassen?« fragte er.
***
Eva erstarrte. Das Einhorn bäumte sich auf, verlor seine Reiterin. Es drehte sich und griff die heranjagenden Wölfe an. »Nein«, murmelte sie. »Das ist doch vorbei.« Sie kreisten das Einhorn ein und schnappten nach seinen ausheilenden Läufen. Es versuchte, die Wölfe mit dem langen Horn auf seiner Stirn aufzuspießen. »Ich will nicht…« Der Zauberer trat aus der blutroten Nacht hervor. Wieder hob er die Hand und schleuderte magische Kraft, »…noch einmal all das…« Eine flirrende Feuerkugel breitete sich aus, sprühte Funken und Blitze nach allen Seiten, »…erleben…«
Dann war es vorbei. Die Bilder verloschen einfach. Aber in den Augen des Jungen sah Eva etwas, das sie erschreckte. Es waren die Augen eines Wissenden.
Aber dann war auch das wieder fort. Stimmen drangen zu ihr vor. »…man nicht einfach so! Man grüßt erst höflich und wünscht einen guten Tag! Also, Rhett, wie geht das?«
Lady Patricia hatte ihre Trimmtätigkeit zugunsten einer erzieherischen Maßnahme eingestellt. Der Junge verbeugte sich jetzt artig. »Guten Tag, Mademoiselle. Wie geht es dir, und wo hast du dein Einhorn gelassen?«
Eva spürte eine Gänsehaut. »Guten Tag, Rhett«, zwang sie sich zu sagen.
»Sir Rhett«, korrigierte er energisch. »Ich bin ein Lord, Mademoiseile. Ein richtiger schottischer Lord.«
»Ja, sicher«, warf Patricia ein. »Du wirst einmal ein Lord sein, wenn du groß bist. Aber das dauert ja wohl noch ein paar Jahre.«
»Ach, das sagst du immer, Pat. Wieviele Jahre denn?«
»Das weiß ich nicht.«
Der kleine Lord wandte sich wieder der blonden Besucherin zu. Die ging vor ihm in die Hocke und streckte zögernd die Hand aus. Rhett griff sofort zu.
»Ich bin Eva.«
»Das ist aber nicht dein richtiger Name«, sagte er prompt.
»Woher weißt du das?«
»Weiß nicht.« Er drehte den Kopf zur Seite, zog seine Hand weg und ging ein paar Schritte zur Seite.
»Und das Einhorn? Was weißt du von dem Einhorn.«
»Weiß nicht. Ich weiß nichts.« Er lief davon, zurück zu seinem Spielzeug.
»Entschuldigen Sie«, bat Patricia. »Er ist eigentlich ein ganz umgänglicher kleiner Kerl.«
»Ich glaube, er ist mehr als das. Ich gehe jetzt wohl besser. Ich wollte Sie… sie beide nicht stören.«
»Sie stören nicht«, versicherte die Schottin. Aber Eva strebte bereits wieder zur Tür, an der Raffael in stiller Zurückhaltung wartete. »Setzen wir die Besichtigung fort, Raffael?«
Lady Patricia sah nachdenklich hinter ihr her.
»Mehr als das«, wiederholte sie. »Wenn du wüßtest, wie recht du hast, Mädchen…«
***
»Ich liebe Rätsel«, sagte Zamorra sarkastisch. Patricia, fitgetrimmt, frisch geduscht und in legerer Freizeitkleidung, war mit ihrem Sohn an der Hand bei ihm aufgetaucht. Dem paßte es gar nicht, von dem Einhorn erzählen zu müssen.
»Weiß ich doch nicht!« meckerte er und wollte sich immer wieder wegdrehen.
»Wieso hast du dann davon geredet?« drängte Patricia und sah wieder Zamorra an. »Er kam hergerannt und fragte sofort: Wo hast du dein Einhorn gelassen? Sag mal, Zamorra, das ist doch nicht normal, oder?«
Er schüttelte den Kopf. Ebenso wenig normal wie das augenblickliche Verhalten des Jungen. Rhett war seinem wirklichen Alter von etwa viereinhalb Jahren geistig weit voraus. Manchmal wirkte er schon wie ein Siebenjähriger. Jetzt aber schien er sogar hinter seine biologische Entwicklung zurückgefallen zu sein. Merkte Patricia das nicht? Zamorra nahm sich vor, sie darauf anzusprechen - aber nicht jetzt, vor den Ohren des Kindes.
»Wer ist diese Eva?« fragte die Schottin derweil.
Zamorra erzählte ihr das wenige, was er wußte.
»Hm«, machte Patricia. »Nicht gerade berauschend. Hoffentlich bringt sie uns nicht in Schwierigkeiten. Wenn ich nur wüßte, was Rhett in ihr gesehen hat. Er hat sie angestarrt wie ein achtes Weltwunder.«
Der Junge schaffte es endlich,
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