0627 - Nadine und die Mörderwölfe
scheißegal, was hier üblich ist oder nicht. Ich will mir die Frau allein ansehen, haben Sie verstanden, Knochenflicker?«
Der Arzt bekam einen ängstlichen Blick. Mein Gesichtsausdruck mußte ihn geschockt haben. Er hob abwehrend die Hände. »Ist ja schon gut, Kollege, ist okay. Sie können allein mit der Toten bleiben.«
»Danke.«
Sie gingen zu dritt. Ich schaute ihnen nach. Suko wollte als letzter den Raum verlassen. Vor dem Ausgang drehte er sich noch einmal um und schaute mich an.
Ich nickte nur.
»Bis gleich, John!« Mehr sagte er nicht. Er drehte sich um und ging davon.
Auch ich drehte mich um. Mein Ziel war die veränderte und tote Nadine Berger…
***
Ich lehnte mich gegen die erhöhte Wanne und schaute sie an. War mein Gehirn verschwunden, meine Seele oder was auch immer?
Ich kam mir so vor, denn ich stand zwar mit beiden Beinen auf dem Boden, und doch überkam mich der Eindruck, langsam abzuheben und wegzufliegen. Dieses verdammte Leichenhaus war realistisch, ich erlebte keinen Traum, und doch wirkte die Szene auf mich, als würde ich von irgendeiner Kraft beherrscht, die mich einfach wegzerrte.
Gefühle wühlten in mir hoch. Gewaltige Berge an Erinnerungen, die Zeiten betrafen, bevor Nadine zur Wölfin geworden war. Da hatte sie als Filmschauspielerin gearbeitet und war auf dem besten Weg gewesen, ein Star zu werden.
Bis zu dem verdammten Tag und Schicksalsschlag, als sie in eine unheimliche Werwolf-Magie hineingeraten war, die sie praktisch in zwei Hälften geteilt hatte.
Der Körper war entmaterialisiert und in weite, fremde Dimensionen geschleudert worden.
Ihr Geist war dafür in den Körper einer Wölfin gefahren. Ein Tier mit menschlicher Seele und einem menschlichen Ausdruck in den Augen, das zum besten Freund der Familie Conolly geworden war.
Eine schreckliche Tatsache, an die wir uns hatten gewöhnen müssen. Wie oft und wie lange hatten wir uns bemüht, alles wieder rückgängig machen zu können! Verschollen in der Urzeit hatte ich Nadines Körper einmal gesehen. Von diesem Zeitpunkt an wußte ich, daß er trotz allem noch existierte. Und nun das.
Mir kam allmählich in den Sinn, daß alles seinen Grund gehabt haben mußte. Unsere Existenz, unser Leben, dies alles gehörte in den gewaltigen Kreislauf des Schicksals hinein, in den Makro- sowie den Mikrokosmos, über dem der Allmächtige steht und lenkt.
In meinen Augen brannte es, als hätte jemand Säure hineingekippt, und im Hals hatte ich einen dicken Frosch.
Im Innern hielt mich die Klammer ebenso fest wie äußerlich, obwohl ich keine von ihnen sah.
Der Anblick war kaum zu ertragen. Noch schimmerte das Haar in diesem unvergleichlichen Rot, noch sah ihr Gesicht so aus, wie ich es in Erinnerung hatte, nur eben bleicher.
Jeans und eine Bluse trug sie. Nadine kam mir vor, als hätte sie sich nur kurz hingelegt, um zu schlafen. Gleich würde sie erwachen, mir ihre Hand reichen, damit ich ihr hochhelfen und mich bei ihr bedanken konnte, daß sie für mich den Weg in das Maul des Riesen Brân gegangen war, um nach Avalon zu gelangen.
Es hatte ihr geholfen, der Körper war wieder vorhanden, doch um welchen Preis?
Es gab kein Leben mehr in ihr. Alles war aus, war vorbei, sie lag als kalte Tote vor mir.
Warm dagegen waren die Tränen, die an meinen Wangen entlangrannen. Ich konnte meine Gefühle unmöglich beschreiben. Wie eine starr dastehende Salzsäule kam ich mir vor.
Verbraucht, verschlissen, mit dem Bewußtsein, alles falsch gemacht zu haben.
An die Conollys dachte ich nicht. Ihnen mußte ich die grausame Tatsache auch noch erklären, aber zunächst wollte ich ganz persönlich Abschied von ihr nehmen.
Die Kälte in der Leichenhalle hatte eine zweite Haut über meinen Körper gelegt. Ich streckte den Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen ihre Haut an der Wange.
Kalt war sie…
Ich räusperte mich, wischte dann das Tränenwasser von meinen Wangen und schaute in die Augen der vor mir liegenden Frau.
Grün schimmerten sie.
Das gleiche Grün, das ich auch bei der Wölfin gesehen hatte. Nicht der Wölfin gesehen hatte. Nicht kalt oder grausam, sondern klar und sehr menschlich kamen mir diese beiden Augen vor.
Ein wohlgeformter Mund anstelle der Schnauze. Volle, reife Lippen, die kleine Nase, die hohe Stirn, das rötliche, leicht angedunkelte Haar mit dem braunen Schimmer. An einigen Stellen leuchtete es mahagonifarben. Die Zeit war einfach stehengeblieben.
Was hatte sie hinter sich? Wie war es ihr auf der Insel
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