063 - Im Labyrinth des Ghuls
die Göttin der Rache, ein
Heiligtum errichteten, um den Kleinen Priestern zuvorzukommen.
Damit wurde
ihr Fluch manifestiert, und erst wenn die Zeit reif ist, wird sich vielleicht
etwas ändern .«
Bracziskowsky
verstand die Worte kaum. »Woher wissen Sie dies alles ?« fragte er beunruhigt.
»Es gibt ein
handschriftliches Buch von Rha-Ta-N’my persönlich. Nur ein einziges Exemplar.
Es ging irgendwo verloren. Doch vor dreiundvierzig Jahren gelang es mir,
Auszüge daraus in einem Antiquitätengeschäft in San Sebastian in Spanien
aufzutreiben. Niemand wußte etwas damit anzufangen, niemand erkannte die wahre
Bedeutung. Es ist wertlos für den, der die Zeichen und Formeln nicht zu lesen
vermag. Und es gibt nur wenige, die überhaupt ahnen, daß so etwas wie das
Manuskript von Rha-Ta-N’my überhaupt existiert .«
Bracziskowsky
schloß sekundenlang die Augen. Vor seinen Augen flimmerte es. In seinem sonst
klar denken Schädel geriet alles durcheinander. Er hatte geglaubt, bisher
phantastische Geschichten geschrieben zu haben. Aber was er hier zu hören
bekam, das übertraf seine blühende Phantasie und alles, was er bisher an
außergewöhnlichen und seltsamen Erlebnissen in den verschiedensten
Zeitschriften als besondere Lesekost angeboten hatte.
Taikona
sprach freizügig über diese Dinge. War es denkbar, daß auch andere Menschen,
außer den beiden Karnhoffs, von dem Geheimnis der Rachegöttin Rha-Ta-N’my durch
den Wächter Taikona erfahren hatten?
Bracziskowsky
kam es vor, als würde sich dieser Mann ein Äußeres geben, das sein Wesen und
seinen Charakter in einem anderen Licht erscheinen ließ.
»Wer weiß
außer Ihnen noch Bescheid ?«
»Niemand.
Diejenigen, die selbst draufkamen, die um die Welt reisten, um eines der
eindrucksvollsten Zeugnisse einer mächtigen Rasse kennenzulernen, haben ihre
Erfahrungen gemacht. Sie kamen alle nach mir. Sonst wäre mir vielleicht vor
fünfzig Jahren das gleiche Schicksal beschieden gewesen .«
»Wer sind Sie
wirklich? Was ist Ihr richtiger Name ?«
»Der tut
nichts zur Sache, jedenfalls jetzt nicht mehr .« Mit
seinem gebrochenen Deutsch drückte er sich erstaunlich geschickt aus. »Ich bin
in Spanien geboren und dort auch aufgewachsen .«
Bracziskowsky
kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. »Ihre Hautfarbe ist weiß«,
drückte er sich vorsichtig aus.
Taikona nahm
die nackten Arme unter dem wallenden, farbigen Gewand hervor. Die Haut war weiß
und welk. Sie sah ungesund aus. »Eine Laune der Natur«, lächelte er. »Ich bin
ein Albino. Messen Sie dieser Angelegenheit keine zu große Bedeutung bei .«
»Warum wurde
Franz Karnhoff zum Ghul? Er war bis vor zehn Jahren nichts weiter als ein
neugieriger, junger Mensch, der die Welt erforschen wollte .« Bracziskowskys Stimme klang belegt.
»Ich habe
Beweise dafür, daß bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr alles mit ihm in
Ordnung gewesen ist. Karnhoff war nicht pervertiert. Was er heute ist, zählt
zum Widerlichsten, was ein Mensch sein kann«, fuhr er ernst fort. »Ich
beobachte ihn seit Jahren.
Ich wurde
Zeuge eines Trancezustandes, in dem ich Hinweise über diese Insel erhielt .«
»Das alles
ist richtig !« Taikona nickte. »Er wird auch meinen
Namen genannt haben. Taikona ist ein Begriff aus einer Sprache, die Sie nicht kennen.
Es bedeutet soviel wie: der Wächter, der ich in der Tat geworden bin. Es ist zu
früh, daß jetzt schon Geheimnisse in der Öffentlichkeit preisgegeben werden,
die noch bewahrt werden müssen .«
»Es sind
schreckliche Geheimnisse ?«
»Ja!
Karnhoffs Sohn muß die Strafe tragen, daß er dieses Geheimnis kennenlernen
wollte.
Die Großen
Alten und die Schwarzen Sklaven dachten ihm die furchtbarste Strafe zu, die ein
denkendes Wesen treffen kann: Schlimmer als der Tod ist es, sich von den Toten
zu nähren!
Der Ghul ist
der Aasgeier der Gesellschaft. Keiner glaubt an ihn, und doch existiert er, im
Geheimen, im Dunklen, in den Labyrinthen, die die Erde durchziehen .« Taikona sah Bracziskowsky mit seltsamem Blick an. »Ich
mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie bereits mit Ihrer Auskunft an diesem Ort
über Ihr weiteres Leben entschieden haben .«
»Wie meinen
Sie das ?«
»Es gibt nur
noch zwei Alternativen für Sie: Entweder Sie werden wie Johann Karnhoff den
Verstand und das Gedächtnis verlieren, oder Sie werden wie sein Sohn zum Ghul .«
Taikonas
Bemerkung brachte Janosz Bracziskowsky völlig aus der Fassung. Doch ebenso
schnell fing er sich auch
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