0638 - Das Palazzo-Gespenst
Sinclair, sagen sollte. Er würde eine Erklärung verlangen, und er hatte, zum Teufel noch mal, auch ein Recht darauf.
Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und wäre fluchtartig weggerannt. Das allerdings schaffte sie auch nicht. So blieb sie denn und untersuchte Suko genauer.
Dazu brauchte sie kein Licht. Ihre Hände tasteten den Körper ab und waren dabei unter die Kleidung gefahren, denn sie wollte auf Nummer Sicher gehen. Herzschlag…
Das eine Wort setzte sich in ihrem Hirn fest. Hatte sie ihn tatsächlich gespürt?
Noch einmal fühlte sie nach, war sich sehr unsicher und rechnete damit, dass es ihr eigener Herzschlag war, dessen Echo durch ihren Körper gedrungen war.
Reiß dich zusammen! Reiß dich zusammen! Immer wieder hämmerte sie sich den Befehl ein.
Und sie tastete abermals nach.
Ja, es stimmte. Jetzt, wo sie sich etwas beruhigt hatte, war schwach, aber deutlich zu spüren, das Sukos Herz nicht stillstand.
Diesmal zitterten Lady Sarahs Beine, weil sie sich darüber so freute.
Plötzlich hatte sie den Eindruck, als würde das Boot über den Kanal fahren, so sehr schwankte der Boden unter ihren Füßen und die Kajütenwände gleich mit.
Wenn bei einem Menschen das Herz noch schlug, dann lebte dieser Mensch. Doch Suko stand an der Schwelle zum Tod. Er ruhte auf der Kippe, auf einer unsichtbaren Grenze, und eigentlich hatte er auch einen Tod erlitten.
Keinen normalen, einen magischen…
Sie dachte darüber nach, weshalb der Mann in der Halle gestorben war und Suko nicht. Dafür müsste es einfach Gründe geben, über die Lady Sarah nachdachte.
Suko war ein Mensch wie alle anderen auch, kein Supermann oder Übermensch. Aber es gab einen Unterschied auch zu den anderen Menschen. Er besaß magische Waffen, wie die Dämonenpeitsche, und damit hatte er sich ja gewehrt. War dies der Grund gewesen, dass er nicht so gestorben war wie der Mann in der Halle? Hatte Suko den Angriff durch den Einsatz der Dämonenpeitsche abschwächen können?
Eine andere Lösung kam für Lady Sarah nicht in Betracht. Es musste darauf hinausgelaufen sein.
Was tun?
Wer Lady Sarah Goldwyn näher kannte, der wusste auch, welch eine resolute Person sie war, und dass sie oft genug das Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte. Es war ihr immer wieder gelungen, einen entsprechenden Weg zu finden. In dieser Nacht jedoch stand sie reglos in der Kajüte und wusste nicht, was sie unternehmen sollte.
Sie schaute auf den starren Körper, atmete die feuchte Luft und fühlte sich hilflos.
Das war genau der richtige Ausdruck. Hilflos dem magischen Tod gegenüber.
Im Klartext hieß dies: Allein konnte sie nichts mehr machen. Das Palazzo-Gespenst war einfach zu stark. Hilfe musste her.
John Sinclair!
Sollte Suko tatsächlich in einen magischen Schlaf oder eine magische Todesstarre gefallen sein, bedurfte es gewisser Hilfsmittel, um ihn wieder aufzuwecken. Das traute Lady Sarah dem Geisterjäger durchaus zu.
Sie dachte auch darüber nach, ob sie Sukos Waffen an sich nehmen sollte, zumindest die Beretta, nahm davon allerdings Abstand. Sollte Suko aus eigener Kraft diesen Zustand verlassen, dann musste er seine Waffen bei sich finden.
Deshalb ließ Sarah sie ihm. Einen letzten Blick warf sie dem starren Körper noch zu. »Mach's gut, Suko! Halte durch - bitte! Ich bitte dich darum.« Die Stimme erstickte, weil wieder Tränen in ihre Augen hochdrängten.
An Deck war die Welt für sie zu einem Alptraum geworden. Dunkelheit und Feuchtigkeit, vermischt mit den grauen Schleiern der Nebeltücher, umwallten sie. Ihr Gang war mit dem einer mondsüchtigen Person zu vergleichen, als sie die Planke überquerte. Am dunkelblau wirkenden Himmel stand der Mond tatsächlich in seiner vollen Pracht und glotzte wie ein kaltes Auge auf die Erde nieder.
Sarah Goldwyn durchschritt den Uferstreifen und drückte das Tor auf.
Erst im Garten blieb sie wieder stehen. Der Geruch hatte sich nicht verändert. Noch immer lag er schwer und duftend über dem Gelände, und er erinnerte Sarah an einen alten Friedhof, denn dort hatte sie einen ähnlichen Geruch erlebt.
Marionettenhaft schritt sie weiter. Sie hatte den Kopf erhoben, sah das Haus wie eine Festung. Die Fenster im Mauerwerk zeichneten ein Muster aus hellen Rechtecken. Lady Sarah fühlte sich beobachtet, obgleich sie niemand sah.
Aber hier war alles anders. Ein Gespenst hatte die Herrschaft übernommen, ein furchtbares Wesen, das einen Menschen allein durch seine Berührung
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