0643 - Das fliegende Grauen
unbeweglich vor dem Spiegel. Im Hintergrund sah sie Glenda und den Ausschnitt der Tür.
Dort bewegte sich etwas.
Glenda konnte es nicht wahrnehmen, aber Jane, weil sie eben in den Spiegel schaute.
Die Bewegung erfolgte in der Luft, eine längliche Gestalt zeichnete sich ab, die keinerlei Kontakt zum Boden hatte. Noch konnte Jane sie nicht genau erkennen. Sekunden später hatte sich das Wesen in den Raum hineingeschoben, wurde schnell und huschte auf Jane Collins zu…
***
Es dauerte nicht mal eine Sekunde, bis sie die fremde Gestalt erfassen konnte.
Das Aussehen war schrecklich. Jane Collins wurde an eine Eidechse erinnert, die einen menschlichen Knochenschädel hatte, von dem Flügel abgingen, aus denen Knochenhände wuchsen. Der übrige Körper bestand ebenfalls aus Knochen, und durch die Bewegungen des Schwanzes konnte das Wesen seinen Flug steuern.
Aus dem Maul ragten die beiden Vampirzähne hervor. Bluthauer, die kein Pardon kannten.
Die Detektivin wusste nicht, was dieses Monster darstellen sollte. Allerdings befanden sich beide Frauen in Lebensgefahr, und ihr Schrei ließ auch Glenda herumfahren.
Da war das Monster schon bei ihr.
Es hätte Jane glatt erwischt. Sie aber duckte sich so tief wie möglich, und das fliegende Grauen huschte über sie hinweg, konnte den Flug nicht mehr stoppen und rammte mit seinem knöchernen Schädel genau in das Zentrum des Spiegels, wo das Glas mit dumpfen Geräuschen zerplatzte.
Sofort rannte Jane zurück. Das Monster hielt den Rahmen umklammert, als wollte es sich daran festhalten. Die Schreie zitterten durch den Raum. Sie hörten sich an, als hätten Hunderte von Grillen ein Konzert veranstaltet.
»Verdammt, was ist das?«, schrie Glenda.
»Ich weiß es nicht!« Jane stand neben der Freundin. Beide Frauen hatten ihre Waffen gezogen.
»Los, Glenda, schieß!«
Sie rissen die Revolver hoch, stützten ihre Schusshände ab und feuerten auf den fliegenden Vampir.
Schießen und treffen konnten beide. Das Zimmer war erfüllt vom Krachen der Waffen.
Die Geschosse jagten aus den Läufen. Sie erwischten nicht nur das Monster, sie hieben ebenfalls in den Spiegel und zerstörten ihn restlos.
Unter den Einschlägen zuckte das Wesen. Die Kugeln hatten auch den Rücken erwischt, wo sich Knochensplitter lösten und als kleine, bleiche Stücke durch die Luft flirrten.
Auch in die Flügel rissen die Kugeln Löcher, und das Monster stürzte ab.
»Weg!« Jane zerrte Glenda zurück. Sie wollte keine Sekunde länger in diesem verdammten Raum bleiben, weil sie plötzlich nicht mehr daran glaubte, dass sie das Wesen mit normalen Kugeln töten konnte. Sie hatten es zwar zu Boden gedroschen, das war auch alles.
Beide Frauen taumelten auf die Tür zu. Jane prallte noch mit dem Rücken gegen den rechten Pfosten, unterdrückte den Schmerz und drehte sich hinaus.
Glenda schmetterte die Tür zu, dass sie im Rahmen erzitterte. Die Frauen wussten sehr genau, dass sie noch längst nicht in Sicherheit waren, und diese Furcht zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab.
Rückwärts gingen sie, die Tür dabei im Auge behaltend. Fragen quälten sie, doch keine wagte es, das erste Wort zu sprechen. Zu tief saß noch der Schock.
Neben einer Bank blieben sie stehen. Sie war mit Kissen belegt, die wie aufgeblasene Ballons wirkten.
Glenda setzte sich nieder. »Hast du deine Waffe leer geschossen, Jane?«
»Nein.«
»Ich habe nur noch zwei Kugeln in der Trommel.«
»Ich drei.«
»Verdammt wenig.« Glenda stand wieder auf. »Kannst du mir sagen, was das war? Welch ein Untier segelt hier durch die Luft, zum Teufel? Ist es ein Vampir?«
»Ich weiß es nicht.«
Glenda starrte die Tür an. »Er wird kommen, Jane, das weiß ich genau. Er wird kommen, um das zu vollenden, was ihm nicht gelungen ist.« Sie räusperte sich. »Ich drehe hier bald durch, wenn das so weitergeht. Oder meinst du, dass sich Mallmann zu einer derart fürchterlichen Figur verwandeln kann?«
»Das glaube ich nicht.« Jane schaute sich während der Worte um. »Er muss in diesem Monstrum noch einen Helfer gehabt haben.«
»Schön. Fragt sich nur, wo der herkommt.«
»Das weiß ich auch nicht.«
Der Garten lag noch in einer völligen Stille. Die in das silberfarbene Mondlicht springenden Wasserfontänen glänzten wie kostbare Diamanten.
Hinter der geschlossenen Tür herrschte eine für beide Frauen trügerische Ruhe, der sie nicht trauten.
Sie wollten zudem nicht länger auf diesem Fleck bleiben, und Jane sprach wieder von der
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