0648 - Der Tod, der Ninja und ich
Spinnweben zusammen wie dichte Gardinen hingen. Nicht weit entfernt wuchs ein Gebilde hoch, das dieser geheimnisvolle Totenbaum war, von dem Yakup so oft gesprochen hatte.
Man konnte ihn mit einem Lebensbaum vergleichen, von dem zahlreiche Äste abzweigten, an denen wiederum Zweige wuchsen, die aussahen wie staubige, knorrige, uralte Finger, jedoch genügend Kraft hatten, um die Dinge zu halten, die in sie hineingelegt worden waren.
Es waren die alten Leiber!
Shao konnte sie nicht sehr deutlich sehen, dazu reichte das Licht einfach nicht aus. Was sie entdeckte, waren Gerippe. Einige von ihnen noch mit Lumpen bedeckt, andere wiederum umgab der blasse Schimmer einer käsigen Haut. Diese sträubten sich gegen den Zustand der Verwesung, deren Geruch den Baum umgab.
Ein normaler Mensch musste schon starke Nerven haben, um an diesem Ort des Todes zu bleiben.
Shao hatte diese Nerven. Zudem wollte sie etwas erfahren.
Es brauchte nicht einmal der große geistige Kontakt zu sein, die anderen sollten ihr nur eine simple Botschaft vermitteln. Sie brauchte den Aufenthaltsort des Dämons Shimada und den des Yakup Yalcinkaya. Alles weitere würde sich dann von selbst ergeben.
Shao duckte sich, als sie an den Leichenbaum heranging. Manche Äste hingen sehr tief. Wie Finger hätten sie sonst durch ihr Haar gekratzt. Sehr langsam hob sie den rechten Arm, und das Licht streute seine Helligkeit gegen den ersten Toten. Zu nahe durfte sie es nicht an die Gestalt heranbringen. Sie war einfach zu trocken und würde brennen wie Zunder.
Shao roch den Staub. Er hatte sich in ihrer Nase festgesetzt. Sie konzentrierte sich auf ihre Umgebung und die Aura des Todes. Es war nicht der Tod, der den Schrecken brachte, sondern der Beginn des Weges in eine höhere Stufe, wo ein anderes Dasein auf den Geist wartete.
Unter dem Geäst des Leichenbaumes sank die Chinesin zusammen. Sie nahm den Lotossitz ein und bewegte sich nicht. Sehr schnell versank Shao in tiefe Trance, hielt die Augen geschlossen, öffnete jedoch ihren inneren Blick, um in die anderen Welten schauen zu können.
Durch die Kraft der Sonnengöttin Amaterasu konnte sich Shao in sich selbst versinken, sie sprengte die Grenzen, und sie suchte den Kontakt mit den Toten.
So ruhig sie auch unter dem Baum saß, ihr Geist war auf Wanderschaft gegangen und spürte tatsächlich die Unruhe, die ihn umgab. Es war wie fremde Stimmen, wenn man einen menschlichen Vergleich zog, doch Shao kommunizierte mit den Geistern der Alten und Toten, die ebenfalls bemerkt hatten, dass jemand in ihre Sphäre eingedrungen war.
Sie zeigten eine gewisse Unruhe, obwohl sie sich nicht so gestört fühlten wie bei einer anderen Person.
Auch Shao vernahm die Botschaft. Sie bestand aus Fragen, denn die Geister wollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten.
Auf telepathischem Wege gab die Chinesin ihnen eine Antwort. Und sie tat es so, als würde sie sprechen. »Ich bin Shao, ich bin eine Suchende, eine Fragende, und zu euch gekommen, um die richtigen Antworten von euch zu erhalten.«
»Wir sind ein Nichts, wir wissen nichts mehr.«
»Für mich seid ihr mehr.«
»Wer bist du, dass du so etwas behaupten kannst?«
Shao wusste nicht, wer gesprochen hatte. Ihr kam es vor, als würde jeder reden. »Ich bin Shao und die Letzte in der Ahnenreihe der Sonnengöttin Amaterasu. Ich habe eine große Aufgabe übernommen. Ich werde die Sonnengöttin befreien, damit sie das Dunkle Reich verlassen kann. Aber der Weg dorthin ist sehr weit, und ein mächtiger Feind versperrt ihn, der Dämon Shimada. Ihn muss ich besiegen. Erst dann kann die Sonnengöttin aus ihrem Dasein erlöst werden.«
Nach dieser Erklärung glaubte sie, die Geister lachen zu hören. »Du willst Shimada besiegen?«
»Ich muss es.«
»Nein, er ist zu mächtig. Weißt du nicht, dass ihm die Festung gehört, mit der er durch die Zeiten zieht? Nein, er ist sogar die Festung, sie und er sind eins. Du kannst ihn nicht besiegen, glaube uns.«
»Ich lasse mich nicht beirren. Zudem zähle ich zu den Freunden des großen Kämpfers Yakup.«
Sie war gespannt auf die Reaktion und wurde nicht enttäuscht, denn die Geister begannen mit einem großen Wehklagen und Jammern. Die Erinnerung an das Schreckliche musste sie überfallen haben.
Shao hatte selten derartig traurige Stimmen vernommen. Sie selbst wartete ab, bis sich die Geister der Alten wieder beruhigt hatten.
»Ihr tut so, als wäre Yakup tot.«
»Vielleicht ist er das!«
»Nein, ihr irrt. Es ist noch
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