0653 - Alfreds kleiner Horror-Laden
andere ausstechen. Es war tatsächlich alt und stammte noch aus dem letzten Jahrhundert, wie ihr glaubhaft versichert worden war. Das Kleid aus bestem Brokat, würde den Rahmen sprengen. Selbst Tillys jüngere Schwester Alice, die sonst nichts für derartige Dinge übrig hatte, konnte das Glänzen in ihren Augen beim Anblick des Kleides nicht verhindern und sie flüsterte nur: »Ist das schön.«
Tilly war vierzig, nicht verheiratet und lebte in der großen Wohnung mit ihrer Schwester zusammen. Alice hatte ebenfalls nicht geheiratet. Sie arbeitete in der Verwaltung der Stadt und fühlte sich dort wohl.
Um zwanzig Uhr würde das Fest beginnen. Schon zwei Stunden vorher stand Tilly vor dem großen Ankleidespiegel in der Kammer neben dem Schlafzimmer. Um ein derartiges Kleid zu tragen, brauchte sie die nötigen Unterkleider.
Sie hatte sich alles besorgt. Das Leibchen, das unter der Brust eng zusammengeschnürt war und ihren Busen anheben würde. Hinzu kamen die beiden Unterröcke mit den eingelegten Reifen, die dafür sorgten, dass ihr Kleid auch entsprechend fiel. Sie war aus der Dusche gekommen, hatte Leibchen und Röcke übergestreift und bürstete durch ihr mahagonirot gefärbtes Haar, das wie eine gewaltige Flut zur rechten Seite hin wegfiel und durch Spray in dieser Form gehalten wurde.
Sie lächelte, als sie sich betrachtete. Trotz ihrer vierzig Jahre konnte sie noch gut mithalten, was die meisten anderen Gäste anging. Die Falten in ihrem etwas schmalen Gesicht hielten sich in Grenzen.
Durch die Tropfen wirkten ihre Augen glänzend und sahen auch irgendwie größer aus. Den schmalen Mund wollte sie etwas kräftiger schminken, damit er mehr auffiel.
Der Rand des Leibchens stützte ihre Brüste gut ab. Sie hatten zwar nicht mehr die Festigkeit der Jugend, aber Tilly war trotzdem stolz auf sie.
Sehr sorgfältig schminkte sie sich. Nicht zu viel Rouge, das würde auffallen. Sie nahm ein wenig Puder, drückte Kleckse auf ihre Wangen und verrieb sie dann.
Ihre Bewegungen waren sehr langsam. Sie hatte Zeit genug, um sich perfekt zu schminken.
Die schmale Tür zum Schlafzimmer war nicht ganz geschlossen. Deshalb hörte sie die leisen Frauenschritte.
»Bist du es, Alice?«
»Ja, Tilly.«
Etwas störte sie am Klang der Stimme. Sie war zu fröhlich, beinahe schon schrill. Während sie weiterhin Rouge auf ihren Wangen verteilte, rief sie Alice die nächste Frage zu. »Was ist los mit dir?«
»Nichts.«
»Das kannst du mir nicht erzählen. Sag schon. Was hat dich so fröhlich gemacht?«
»Dein Kleid, Tilly.«
Jetzt musste Tilly lachen. »Das gibt es doch nicht. Wie sollte dich mein Kleid fröhlich machen?«
»Weil ich es angezogen habe.«
Die Antwort ihrer Schwester schockte Tilly Erskine. Beide Hände sanken im Zeitlupentempo von ihren Wangen herab nach unten. Unter der Schminke wurde sie blass.
»Du hast mein Kleid übergezogen?«
»Sicher, ist das ein Verbrechen?«
Tilly holte scharf Luft. Sie dachte nach, wie sie es ihrer Schwester erklären sollte. »Hör zu, Alice, zieh das Kleid sofort aus! Tu mir und dir den Gefallen.«
»Warum sollte ich?«
»Weil es besser für dich ist.«
»Es steht mir aber gut.«
Tilly sah ein, dass sie mit Worten keinen Erfolg erzielen konnte. »Warte, ich komme.« In Reichweite lag eine Strickjacke, die sie rasch überzog und nachlässig zuknöpfte. Dann rammte sie fast die schmale Tür auf und betrat das Schlafzimmer.
Alice stand mitten im Raum. Sie hatte das schwere, golden und wertvoll schimmernde Brokatkleid tatsächlich übergestreift. Tilly musste ehrlich zugeben, dass es ihrer dunkelhaarigen Schwester gut stand. Alice strich mit beiden Händen über den teuren Stoff und ließ die Finger auch an ihrem Hals entlanggleiten. »Jetzt brauche ich nur noch den richtigen Schmuck und deine Unterwäsche. Dann ist alles klar.«
Tillys Gesicht blieb unbewegt. »Zieh es aus, Alice, verdammt!«
»Weshalb denn? Hast du Angst davor, dass du es nicht zurückbekommst? Ist es das?«
»Nein!«, rief sie fast verzweifelt.
»Was ist es dann?«
»Das Kleid selbst!«
Alice staunte Tilly aus ihren dunklen Augen an. »Was hast du da gesagt?«
»Ja, es ist das Kleid.« Tilly trat wütend mit dem rechten Fuß auf. »Du darfst es nicht tragen. Es darf nur von der Person getragen werden, die es erworben hat.«
Alice riss den Mund auf und lachte aus vollem Hals. »Was sind das denn für Märchen, Schwesterherz? Aus dem Alter sind wir doch längst heraus, nehme ich an.«
Tillys
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