067 - Der Redner
betrügerische Sachen hat er sich allerdings nie zuschulden kommen lassen.«
Das Verhalten Mr. Dissels verriet eine gewisse Ähnlichkeit, wie es der Redner erwartet hatte.
»Wenn es sich um Geld handelt ...« Theodor zuckte hilflos die Schultern, »dann kann ich wenig tun. Ich habe ihm schon früher dauernd Geld vorgestreckt, bis jetzt sind es fünfzehntausend Pfund. Das Geld werde ich wohl nie im Leben wiedersehen.«
»Nein, es handelt sich nicht um Betrug«, erwiderte der Redner langsam. »Wenigstens nicht so, wie Sie es im Augenblick meinen. Besitzt Ihr Bruder die belgische Nationalität?«
Theodor nickte.
»Und Sie sind in England naturalisiert?«
»Ja.«
Mr. Rater sagte nichts darauf; er strich sich nur das Kinn mit der Hand. In seinen großen, blauen Augen schien sich etwas von den Sorgen Mr. Dissels zu spiegeln.
»Was Sie mir von Ihrem Bruder Henry erzählten, glaube ich Ihnen gerne. Er verkehrt mit Leuten, die nicht ganz einwandfrei sind. Wissen Sie, daß er Diamanten kauft und verkauft?«
Theodor zog die Augenbrauen hoch.
»Diamanten?« fragte er bedächtig. »Nein, das wußte ich nicht. Als er das letztemal in London war, machte er allerdings eine Andeutung, daß er mit dem hiesigen Juwelier Devreux in Geschäftsverbindung steht. Ich habe den Mann einmal getroffen, er sieht sehr wenig vertrauenerweckend aus.«
Der Redner schwieg einige Zeit.
»Da haben Sie ganz recht«, meinte er dann. »Devreux ist ein schlechter Charakter, ich kenne ihn.«
Der Chefinspektor ging zu seiner Wohnung zurück und dachte weiter über den Fall nach.
»Wirklich zu merkwürdig«, sagte er schließlich und entschied sich dafür, vorläufig nicht mehr daran zu denken. Die Sache würde sich schon von selbst weiter entwickeln.
Vierzehn Tage später kam Henry Dissel mit dem Zug in Ostende an. Es war ein warmer Septembertag, und auf dem Kanal herrschte Nebel. Er belegte eine Kabine erster Klasse und stellte dort seinen Lederkoffer ein. Dann aß er zu Mittag. Er hinkte auffällig, und als er an Deck erschien, gebrauchte er einen Stock.
An der englischen Küste wurde der Nebel dichter. Dissel war nach dem hinteren Teil des Schiffes gegangen und hatte sich dort auf das Geländer gesetzt. Ein Schiffsoffizier kam vorbei und machte ihn auf die Gefährlichkeit seines Sitzplatzes aufmerksam.
Nur mit Hilfe der Signalschüsse und der Sirenen konnte der Dampfer den Eingang zum Hafen von Dover finden. Mit einer Stunde Verspätung näherte er sich der Einfahrt.
Als das Schiff drehte - Fährschiffe fahren immer rückwärts ein -, vernahm ein Passagier zweiter Klasse einen Hilferuf. Dann hörte man etwas ins Wasser fallen. Mehrere Leute eilten an die Reling. Ein Steward sah den Stock Mr. Dissels im Wasser treiben, aber von dem Mann selbst war nichts zu sehen.
Es wurde sofort ein Boot hinuntergelassen. Die Matrosen fischten den Hut des Verunglückten auf, konnten ihn selbst jedoch nirgends entdecken. Am Abend las Mr. Rater eine Notiz in der Zeitung:
Passagier fällt im Kanal über Bord. Ein Passagier des Dampfers »Prinzessin Georgine«, vermutlich Monsieur Henry Dissel aus Brüssel, fiel von der Reling, als der Dampfer in den Hafen von Dover einfuhr. Die Leiche ist bis jetzt noch nicht geborgen worden.
»Aha!« sagte der Redner vor sich hin. Die Tragödie schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen.
Die Leiche Henry Dissels war auch noch nicht gefunden, als der Redner dem Bruder in London einen Besuch machte, um ihm sein Beileid auszusprechen.
Theodor öffnete gerade den Lederkoffer, den ihm die Polizei von Dover geschickt hatte.
»Ich bin ganz außer Fassung«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eben habe ich mit Brüssel telefoniert. Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, warum Henry hätte Selbstmord verüben sollen. Sein Geschäft ging gut, seine Bücher und sein Betrieb waren in Ordnung, soweit das bei seinem Charakter überhaupt möglich war. Auf der Bank hatte er einen Kredit von über tausend Pfund. Vor ein paar Tagen hatte er allerdings einen kleinen Unfall beim Tennisspiel und war nicht ganz sicher auf den Füßen. Vielleicht ist der Umstand mit daran schuld, daß er ins Wasser fiel.«
»War er in einer Lebensversicherung?« fragte Rater.
Theodor nickte.
»Ach ja - das hatte ich ganz vergessen. Als ich damals seine Schulden bezahlte, bestand ich darauf. Es war vielleicht etwas herzlos von mir, aber ich mußte doch schließlich irgendeine Sicherheit in der Hand haben.«
»Lautete die Police auf
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