069 - Ein gerissener Kerl
Rennpace sechs Viertelmeilen laufen lassen. Dann werden Sie mit eigenen Augen den vermutlichen Sieger erkennen.«
Er sah etwas wie Argwohn in den hinterlistigen Augen unter den dicken, verquollenen Lidern aufdämmern.
»Ich bin sehr begierig«, sagte Guelder und trottete neben Tonys Pferd her.
Sie kamen zu einem Platz, auf dem ein halbes Dutzend Pferde im Kreise einherschritt. Guelder trat beiseite und beobachtete gespannt, wie ihnen die Decken abgenommen und die letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Zwei der Pferde wurden herangeführt. Entgegenkommend teilte Tony ihm deren Namen mit, obwohl das, wenigstens bei dem einen, unnötig war.
»Das ist Barley Tor, auf den, wie ich höre, von aller Welt gesetzt wird. Das andere ist die sehr schnelle Stute Lydia Marton. Eine Dreijährige. Wenn Sie ein Rennfanatiker sind, kennen Sie sicher ihre Geschichte. Im Frühling lief sie zum erstenmal und gewann ein kleines Rennen in Pontefract.«
»Worauf warten Sie noch?« fragte Guelder mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Auf die Jockeys. Da sind sie!«
Tony blickte die Straße hinab, auf der eine Staubwolke der Spur eines starken Kraftwagens folgte. Der Wagen hielt an dem Platz, auf dem die Pferde herumtänzelten. Zwei schmächtige kleine Gestalten stiegen aus. Guelder erkannte in ihnen zwei der führenden Jockeys vom Turf. Der eine war ein Mann über dreißig mit einem dunklen Vogelgesicht, der gern ein offenes Wort sprach und für seinen Spott bekannt war.
»Sie reiten Lydia Marton, Burnie«, rief Tony Braid. Der zweite Jockey war schon auf Barley Tor aufgesessen. Sie kanterten zum Start. Rex Guelders Gehirn arbeitete emsig. Er kannte Tony Braid, aber noch besser kannte er dessen Ruf. Tony und Julian Reef waren erbitterte Feinde. Guelders Partnerschaft mit Reef war allgemein bekannt. Sicherlich wußte auch Braid darüber Bescheid. Warum lud er ihn dann aber zum Zeugen dieser wichtigen Probe ein? Das paßte doch eigentlich gar nicht zu dem ›gerissenen Kerl‹!
»Nicht wahr, Sie arbeiten in Reefs Büro, Mr. Guelder?« fragte Tony unvermittelt.
»Ja, zu meinem Glück«, entgegnete Guelder und wartete, was jetzt kommen würde.
»Sicherlich ist er sehr betrübt über Lord Frenshams Tod?« Guelder wiegte den Kopf und wurde ganz Trauer. »Ach, der arme Mensch! Ich kann seinen Jammer und seine Seufzer kaum noch ertragen. Leider gibt es auch noch andere Gründe zum Klagen. Der Lord schuldete dem armen Julian sehr beträchtliche Summen. Aber daran denkt Julian nicht mehr, er hat ein so gutes Herz. Ihn betrübt nur der jähe Verlust des Oheims. Was für ein Unglück! Dem armen Julian gilt Geld nichts. Er ist findig, er ist klug, er hat eine große Zukunft.«
»Vielleicht«, sagte Tony trocken. »Wie gehen denn die Geschäfte, Mr. Guelder?«
Rex Guelder zuckte die breiten Schultern. »In der City geht's immer 'rauf und 'runter«, meinte er, »aber wir haben Glück. Unsere Firma hat große Reserven, großes Einkommen und wertvollen Besitz. Und unsere Aussichten sind geradezu unbegrenzt!« Tony zündete sich umständlich eine Zigarette an. Kein Lächeln, keine Geste, kein Zucken des Lids verriet seinen tiefen Zweifel an der Ehrbarkeit des Geschäfts, das Mr. Julian Reef leitete.
»Jetzt«, fuhr Guelder fort und wollte eifrig die Gelegenheit ausnutzen, einen so mächtigen Mann wie Braid zum Vertrauten zu gewinnen, »jetzt natürlich geht bei uns alles drunter und drüber wegen der Lulanga-Öl-Aktien - wie die fallen! Gestern abend standen sie sieben Sechstel, wir haben unzählige noch mit zwei Pfund gekauft.«
Tony lächelte. »Kaum«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Pardon - ich meine zu dreißig Shilling«, verbesserte sich Guelder.
Wieder schüttelte Braid den Kopf und lächelte ungläubig.
»Nun, vielleicht zu einem Pfund - ich weiß das nicht so genau. Und jetzt, wo der Direktor der Gesellschaft gestorben ist und niemand weiß, was werden wird ... Ich denke oft .«
»Achten Sie auf die Pferde!« rief Tony.
Das Feld war losgelassen. Sechs schwarze Punkte ballten sich in der Ferne zusammen. Der Trainer stand, die Stoppuhr in der Hand, das Glas am Auge. Näher und näher kamen sie heran. Guelder bebte vor Erregung. Er konnte sie genau sehen, ohne Glas: der Fuchs Barley Tor führte. Die kastanienbraune Lydia Marton lag eine halbe Länge zurück. Er sah den Jockey auf Barley Tor ganz still sitzen. Dann, als sie weniger als fünfzig Meter von den Beobachtern entfernt waren, schoß die Stute Lydia Marton vor, und
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