07 - Asche zu Asche
Vater. Wie praktisch jeder, der einmal zum kleinen Leben ihrer Mutter gehört hatte.
»Oh? Wie ist er - ist er im Krieg umgekommen wie Pearl?«
»Nein. Für den Krieg war Tony zu jung. Er kam erst nach dem Krieg auf die Welt. Viel, viel später.«
»Also ist er nicht bei einem Bombenangriff umgekommen?«
»Nein, nein. So etwas war es nicht.« Es war etwas viel Schlimmeres, dachte Barbara, viel weniger barmherzig als ein Moment von Blitz, Feuer und Flamme. »Er hatte Leukämie, Mama. Das ist, wenn mit dem Blut etwas nicht mehr richtig funktioniert.«
»Leukämie. Ah ja.« Die Stimme wurde lebhafter. »Das hab ich nicht, Barbie. Ich hab nur Bauchweh. Mrs. Flo hat mir heute mittag Suppe hingestellt, aber die hab ich nicht runtergekriegt. Aber jetzt esse ich. Wir haben uns Toast mit Kräuteraufstrich gemacht. Und Brombeermarmelade. Ich esse den Kräuteraufstrich. Mrs. Pendlebury ißt die Marmelade.«
Barbara dankte dem Himmel für diesen Moment der Klarheit und nutzte ihn hastig, ehe ihre Mutter sich wieder ausblendete.
»Gut. Das tut dir gut, Mama. Du mußt essen, damit du bei Kräften bleibst. Hör mal, es tut mir leid, daß ich heute nicht kommen konnte. Aber wir bekamen gestern abend noch einen Fall, und ich hatte Dienst. Aber ich werde versuchen, dich vor dem nächsten Wochenende mal zu besuchen. Okay?«
»Kommt Tony dann auch mit? Und Dad, Barbie, kommt Dad auch?«
»Nein. Nur ich.«
»Aber ich hab Dad schon so lange nicht mehr gesehen.«
»Ich weiß, Mama. Aber ich bringe dir was Schönes mit. Weißt du noch, du hast doch immer von Neuseeland gesprochen. Von dem Urlaub in Auckland.«
»Wenn bei uns Sommer ist, ist in Neuseeland Winter, Barbie.«
»Ja, das stimmt. Gut, Mama.« Merkwürdig, dachte Barbara, die erinnerten Fakten, die vergessenen Gesichter. Woher flossen die Informationen? Wie gingen sie verloren? »Ich habe die Prospekte für dich. Das nächstemal, wenn ich komme, kannst du gleich anfangen, den Urlaub zu planen. Wir können es gemeinsam tun. Du und ich. Was hältst du davon?«
»Aber wir können doch nicht in Urlaub fahren, wenn Verdunkelung ist! Und Stevie Baker will bestimmt nicht, daß du ohne ihn wegfährst. Wenn du es weiter mit Stevie Baker machst, passiert was Schlimmes, Pearlie. Ich hab sein Ding gesehen, weißt du. Ich hab alles genau gesehen. Du hast gedacht, ich war in der Küche, aber ich bin euch nachgegangen. Ich habe genau gesehen, wie er dich geküßt hat. Du hast selber deine Unterhose ausgezogen. Und dann hast du Mama angelogen, als sie wissen wollte, wo du warst. Du hast gesagt, du und Cora Trotter, ihr hättet Mullbinden aufgerollt. Du hast gesagt -«
»Barbie?« Mrs. Flos gütige Stimme. Und im Hintergrund immer noch die Stimme Doris Havers', die laut fortfuhr, die Jugendsünden ihrer Schwester aufzuzählen. »Sie ist ein bißchen erregt, Kind. Aber deswegen dürfen Sie sich keine Sorgen machen. Das ist die Freude über Ihren Anruf. Sie wird sich gleich wieder beruhigen, wenn sie noch ein bißchen was ißt. Und danach geht's ins Bett. Gebadet hat sie schon.«
Barbara schluckte. Es wurde niemals leichter. Immer machte sie sich auf das Schlimmste gefaßt. Sie wußte im voraus, was zu erwarten war. Aber immer wieder - bei jedem dritten oder vierten Gespräch mit ihrer Mutter - spürte sie, daß ihre Kraft bröckelte, wie ein Sandsteinfelsen an der Küste unter dem ewigen Anprall des Meeres.
»Gut«, sagte Barbara.
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen.«
»Gut«, wiederholte Barbara.
»Ihre Mama weiß, daß Sie sie besuchen, sooft Sie können.«
Mama wußte nichts dergleichen, aber es war lieb von Mrs. Flo, das zu sagen. Nicht zum erstenmal fragte sich Barbara, aus welch bemerkenswerter Quelle Florence Magentry ihre Geistesgegenwart, ihre Geduld und ihre Güte schöpfte.
»Ich habe Dienst«, sagte sie wieder. »Vielleicht haben Sie durch die Zeitung oder das Fernsehen von dem Fall gehört. Es geht um diesen Cricket-Champion. Fleming. Er ist bei einem Brand ums Leben gekommen.«
Mrs. Flo schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Der Arme.«
Ja, dachte Barbara. In der Tat. Der Arme.
Sie verabschiedete sich, legte auf und kehrte zu ihrem Tee zurück. Auf der sandfarbenen Schale der Eier, die sie auf die Arbeitsplatte gelegt hatte, hatten sich winzige Kondenströpfchen gebildet. Sie nahm ein Ei zur Hand. Rollte es über ihre Wange. Der Appetit war ihr vergangen.
Lynley vergewisserte sich, daß er die Tür zu Helens Wohnung abgeschlossen hatte, als er ging. Sie war
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