07 - Asche zu Asche
tun wir's wieder, Chris, sag doch. Wann machen wir den nächsten Überfall?«
Er antwortete nicht. Er trat fester aufs Gas. Der kleine Lieferwagen schoß vorwärts. Die Kartons hinter uns rutschten ein paar Zentimeter nach rückwärts. Mehrere Katzen miauten.
»Was tun wir mit ihnen? Chris, antworte mir doch. Was tun wir mit ihnen? Wir können sie doch nicht alle behalten. Chris! Du willst sie doch nicht alle behalten, oder?«
Er sah mich an, dann wieder auf die Straße. Im Schein der Armaturenbeleuchtung wirkte sein Gesicht gelb. Ein Hinweisschild zum M 20 hob sich im Licht der Scheinwerfer aus der Dunkelheit. Er lenkte den Lieferwagen nach links zur Ausfahrt.
»Hast du Plätze für sie? Liefern wir sie gleich heute morgen ab, wie der Milchmann? Aber eine behalten wir, ja? Zum Andenken. Ich nenn sie Einbruch.«
Er zuckte zusammen. Er machte ein Gesicht, als hätte er etwas im Auge.
»Hast du dich verletzt?« fragte ich. »Hast du dich geschnitten? Hast du dir an den Händen was getan? Soll ich fahren? Komm, ich fahre, Chris. Laß mich ans Steuer.«
Er gab noch mehr Gas. Die Nadel des Tacho kroch höher. Die Katzen schrien.
Ich drehte mich in meinem Sitz herum und zog einen der Kartons zu mir. »Okay«, sagte ich. »Mal sehen, was wir da haben.«
»Livie!« rief Chris.
»Na, wer bist du denn? Wie heißt du, hm? Bist du froh, daß du da raus bist, aus diesem scheußlichen Bau?«
»Livie!« rief Chris wieder.
Aber ich hatte den Karton schon geöffnet und hob das kleine Pelzbündel mit beiden Händen heraus. Es war ein junges Tigerkätzchen, graubraun und weiß, mit übergroßen Ohren und Augen. »Ach, bist du süß«, sagte ich und setzte es auf meinen Schoß. Es jammerte. Die kleinen Krallen verfingen sich in meinen Leggings, und es begann auf meine Knie zu kriechen.
»Tu's wieder rein«, sagte Chris genau in dem Moment, als ich die Hinterbeine des Kätzchens bemerkte. Es zog sie schlaff und nutzlos hinter sich her. Sein Schwänzchen hing leblos herab. Ein langer dünner Schnitt, der von blutverkrusteten Fäden zusammengehalten war, zog sich sein Rückgrat entlang. Zwischen den Schultern quoll Eiter aus dem Schnitt. Das ganze Fell war verklebt.
Ich fuhr zurück. »Scheiße!« schrie ich.
»Tu's wieder in den Karton«, sagte Chris.
»Ich - was ist - was haben sie gemacht ...?«
»Sie haben ihm das Rückgrat gebrochen. Leg's wieder in den Karton.«
Ich konnte nicht. Ich brachte es nicht über mich, das Kätzchen zu berühren. Ich drückte meinen Kopf gegen die Kopfstütze.
»Nimm es weg«, sagte ich. »Chris. Bitte.«
»Was hast du dir denn vorgestellt? Was, zum Teufel, hast du dir gedacht?«
Ich drückte meine Augen zu. Ich spürte die kleinen Krallen auf meiner Haut. Ich sah das Kätzchen hinter meinen geschlossenen Lidern. Sie brannten. Mein ganzes Gesicht brannte. Das Kätzchen jammerte. Ich spürte, wie sein kleiner Kopf meine Hand streifte.
»Mir wird schlecht«, murmelte ich.
Chris zog den Wagen in eine Parkbucht. Er stieg aus, knallte die Tür zu, kam auf meine Seite herüber. Er riß die Tür auf, und ich hörte ihn fluchen.
Er nahm das Kätzchen von meinem Schoß und zerrte mich aus dem Wagen. »Was hast du denn gedacht, was wir hier machen? Spielchen? Los, sag schon, was hast du dir vorgestellt, Herrgott noch mal?«
Seine Stimme war dünn und gepreßt. Mehr ihr Klang als seine Worte veranlaßten mich, meine Augen zu öffnen. Er sah so aus, wie ich mich fühlte: als hätte ihm jemand die Luft abgeschnürt. Er hielt das Kätzchen mit beiden Händen an seine Brust gedrückt.
»Komm her«, sagte er. Er ging hinter den Lieferwagen. »Ich hab gesagt, komm her.«
»Zwing mich nicht -«
»Verdammt noch mal! Komm her, Livie. Sofort.«
Er riß die hintere Tür auf. Er begann die Deckel der Kartons hochzuziehen. »Schau«, sagte er. »Livie. Komm her. Ich hab gesagt, du sollst schauen.«
»Ich brauche es nicht zu sehen.«
»Wir haben gebrochene Wirbelsäulen.«
»Hör auf!«
»Wir haben offene Gehirnschalen.«
»Nein.«
»Wir haben Elektroden im Gehirn und -«
»Chris!«
»- Elektroden in Muskeln eingenäht.«
»Bitte.«
»Nein. Schau hin. Sieh es dir an.« Seine Stimme brach plötzlich. Er lehnte die Stirn an den Lieferwagen und begann zu weinen.
Ich starrte ihn an. Ich konnte nicht zu ihm gehen. Sein Weinen und das Schreien der Tiere vermischten sich miteinander. Ich konnte an nichts anderes denken, als daß ich wünschte, ich wäre mindestens hundert Meilen weit weg von dieser
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